Biller Papers 8 Tagtraum, psychedelisch. Letzter Teil der Kritik „in progress“ zu Maxim Billers Roman „Biografie“
: Ich und ich und ich und die Wirklichkeit

Ein melancholisches Gefühl breitet sich im Körper aus beim Lesen der letzten der 893 Seiten von Maxim Billers Roman, der vielleicht auch eine Autobiografie in Romanform ist. So viel Zeit hat man verbracht mit den Figuren, dass der nahende Verlust, der kommende Austritt aus der Biller’schen Romanwelt wider Erwarten fast ein bisschen wehtut.

Hat Solomon Karubiner, der Held der Geschichte, nicht ständig genervt mit seiner neurotischen Fixiertheit auf die Regungen seines Verdauungsapparats, seinen Migräneattacken, seiner narzisstischen Selbstbezogenheit, dem ewigen Grübeln darüber, was der strenge Vater und die selbstverliebte Mutter mit dem Scheitern seiner Liebesbeziehungen zu tun haben? Klar hat er genervt, aber Hysteriker sind nun mal interessante Figuren. Ohne Hysterie keine Kunst, keine Geschichte, kein Fortschritt.

Und Solis hyperaktiver Busenfreund, der verzogene Sohn eines jüdischen Gangsters aus Buczacz, der seinen eigenen Vater auf die Transportliste gesetzt hatte, dieser Noah Forlani, der ein Aufmerksamkeitsdefizit entwickelt hat, weil er nie unbeobachtet blieb, der immer neue, aber etwas spät kommende Business-Ideen im Sinn und eine sexuelle Vorliebe für große Frauen hat, die ihn an seine dominanten Kindermädchen erinnerten, hat er nicht auch vor allem genervt? Doch, schon. Aber in seiner Verpeiltheit ist Noah auch ein sympathischer Typ.

Man schlägt „Biografie“ also mit einem Seufzer zu, weil die Charaktere keine Pappkameraden sind. Biller hat seine Figuren satirisch überzeichnet, aber sie sind dennoch plausibel. Enttäuscht, verunsichert, hypochondrisch, neidisch, zynisch und berechnend sind sie, aber auch herzlich, aufrichtig und witzig.

Ist „Biografie“ ein konservativer Roman mit einer aus dem 19. Jahrhundert überkommenen Vorliebe fürs Psychologische? Nope. Weil das Psychologische immer wieder ins Psychedelische, das nüchtern Beschriebene ins Tagtraumhafte, Irreale, Wunschgetriebene umschlägt.

Die Normalzeit des Romans, an der sich die anderen Zeit­ebenen orientieren, ist definiert durch jene Phase nach Noah Forlanis vermeintlicher Ermordung durch islamistische Terroristen im Sudan, in der Soli Karubiner wegen des peinlichen Vorfalls in der Elstar-Sauna nach Israel geflüchtet ist, wir sprachen davon. Von dieser Achse aus springt die Erzählung ständig in vergangene Zeitebenen hinein, in die Erinnerungen von Soli und Noah, denn auch das „Ich“ bleibt in dieser kaleidoskopartig aufgefächerten, multisperspektivischen Erzählung nicht Soli vorbehalten. Manchmal ist das erzählende Ich auch das Ich von Noah.

So sprechen die Leute heute

Was als atemloser Stil erscheint, der manche Rezensenten gelangweilt hat, ist das Ergebnis der ästhetischen Entscheidung, das Multitasking, das Hin- und Herspringen zwischen den Kanälen und Gesprächsebenen, das popkulturell informierte Zitieren vergangener Dialoge, das die Kommunikation gegenwärtig lebender Menschen prägt, sich als erzählerische Form anzueignen.

Müssen wir noch über das deutsch-jüdische Verhältnis sprechen, das den historischen Hintergrund bildet, vor dem sich die Figuren abheben? Darüber kann man ganze Romane schreiben, und Biller hat’s gemacht. Nur so viel: Soli Karubiner ist ein Schriftsteller, der die Deutschen ärgern kann, weil sie schon beleidigt sind. Sie kommen nur rational, nicht emotional mit ihrer Vergangenheit klar.

Am Ende ist „Biografie“ ein wunderbarer, witziger, großer Roman auf der Höhe der Zeit. Über eine Freundschaft und einen Vater, der nicht so schlecht ist, wie der Sohn ihn sich gemacht hat. Ulrich Gutmair

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