Berlinmusik
: Kraftund Buße

Für Dirigenten gibt es einige unbestrittene Bewährungsproben. Die neun Symphonien Ludwig van Beethovens gehören immer noch zum Gipfel dessen, was man mit einem Orchester artikulieren kann – und mit dem Taktstock bewältigen muss. Simon Rattle, scheidender Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, sichert sich und dem Orchester – bevor er sich nächstes Jahr in Richtung London verabschiedet – mit seinem Beethoven-Zyklus, dem zweiten in seiner Karriere, jetzt schon einmal das gemeinsame Vermächtnis.

Wenn sich jemand bei der starken Konkurrenz an herausragenden Beethoven-Einspielungen mit einer neuen Deutung versucht, hat er oder sie allein der vielen Vergleichsmöglichkeiten wegen schon einen schweren Stand. Unter den jüngeren Angeboten ist etwa Paavo Järvi mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen ein großer Wurf gelungen. Rattle braucht sich mit seinem Beethoven jedoch keinesfalls hinter den Kollegen zu verstecken.

Romantisch, aber nicht angestaubt-getragen, strahlend, aber nicht glatt, kraftstrotzend, aber nicht grob: Rattle setzt auf Präzision und Transparenz, ohne darüber zu vergessen, dass diese Musik als Klangrede auch etwas mitzuteilen hat und dabei das eine oder andere laute Wort fallen darf. Neben den „Hits“ wie der 3., der 5. oder der 6. elektrisiert Rattle ebenfalls bei den etwas im Schatten stehenden Symphonien – wie der 4. mit ihrem abruptem Wechsel von Moll zu Dur im 1. Satz.

Eine stillere Form der Klangrede, in diesem Fall vermischt mit herkömmlicher wörtlicher Rede, sind die „Bußverse“ des Komponisten Alfred Schnittke, dessen Schaffen insbesondere für Polystilistik und gelegentliche musikalische Pastiches steht. Romantik ist eine der Artikulationsformen, deren sich Schnittke bedient hat, und auch seine geistliche Chormusik greift auf deren Vokabular zurück. Allerdings ohne das Schwelgerische, vielmehr ist es ein dunkles Glimmen in rauer, liturgisch anmutender Polyphonie, auf das sich Schnittke konzentriert, vom Rias Kammerchor unter Hans-Christoph Rademann wunderbar dicht und innig vorgetragen. Noch so ein musikalisches Abschiedsgeschenk – mit dem Unterschied, dass Rademann sich inzwischen anderen Aufgaben an der Stuttgarter Bach-Akademie widmet. Tim Caspar Boehme

Berliner Philharmoniker, Sir Simon Rattle: „Ludwig van Beethoven: Symphonien 1-9“ (Berliner Philharmoniker Recordings)

RIAS Kammerchor, Hans-Christoph Rademann: „Alfred Schnittke: Penitential Psalms“ (Harmonia Mundi)