Frei trotz „moralischer Mitverantwortung“

GEWALT Im Prozess gegen zwölf Freunde von Jusef El-A. gibt es gute Nachrichten für die Hälfte der Angeklagten. Viele Fragen zu seinem Tod sind noch offen

Warum rief Sven N. nicht die Polizei? Warum bewaffnete er sich?

Die Erleichterung ist den sechs jungen Männern ins Gesicht geschrieben, als Richter Reimar Schweckendieck am Donnerstag kurz nach der Mittagspause den Beschluss des Landgerichts verkündet: Die Anklage wegen „schweren Landfriedensbruchs“ gegen Savas Y., Ferhat T., Caner C., Ali K., Dennis T. und Anil A. wird eingestellt – unter dem Vorbehalt, dass jeder eine Geldbuße zwischen 200 und 300 Euro an eine gemeinnützige Organisation zahlt. Denn, so erklärt der Richter: „Auch Sie haben eine moralische Mitverantwortung, dass einer aus Ihrem Kreise sein Leben lassen musste.“ Wie groß die Mitverantwortung bei sechs weiteren Angeklagten ist, wird in den kommenden Verhandlungstagen zu klären sein.

Vor einer Woche hat der Prozess gegen insgesamt zwölf junge Neuköllner begonnen, die dabei waren, als am 4. März 2012 ihr Freund Jusef El-A. getötet wurde. Der Mann, der Jusef mit einem Küchenmesser erstach, Sven N., kam nie vor Gericht; die Ermittler erkannten auf Notwehr. Dagegen sind Ju­sefs Freunde nun angeklagt, weil sie sich an jener Schlägerei beteiligt hätten, in deren Verlauf Jusef getötet wurde.

Was genau passierte an jenem Tag? Etwas Licht in die Sache kommt an diesem zweiten Prozesstag durch die Einlassungen, die zehn der zwölf Angeklagten über ihre Anwälte verlesen lassen. An vieles können sich die jungen Männer nach vier Jahren nicht mehr erinnern oder geben dies zumindest vor. Offenkundig wollen sie sich auch nicht gegenseitig belasten. Dennis T. etwa gibt zwar zu, jemandem aus dem Kreis der Angeklagten einen Schlagstock entwendet und weggeworfen zu haben – aber wem, will er nicht sagen.

Vor den Augen der Mutter

Übereinstimmend berichten mehrere, ihr Mitangeklagter Fatih D. habe sie aufgefordert mitzukommen, weil er von N. und weiteren Männern im Streit beim Fußball geschlagen worden sei – „vor den Augen seiner Mutter“, wie einige betonen. Fatih D., der an diesem Tag keine Aussage macht, habe „die Sache klären wollen“, mit N. reden – und sie seien auch nicht mitgekommen, um zu schlagen, sondern um zu schlichten. Dennoch, erklären alle, sei ihnen unwohl dabei gewesen: Es habe eine „gewisse Aggressivität“ geherrscht, wie Anil A. sagt. Im Nachhinein, so Caner C., hätte er „wissen müssen, dass es zu Handgreiflichkeiten kommen kann“.

Wie genau es dazu dann kam, ist unklar. Die meisten Angeklagten sagen entweder, sie seien zu weit weg gewesen, oder alles sei zu schnell gegangen. Einige Aussagen werfen allerdings kein sehr gutes Licht auf Jusef, der als ausgebildeter Schlichter zu dem Streit hinzugerufen wurde. So erklärt Ali K., Jusef sei auf Sven N. zugelaufen, der etwas abseits gestanden habe mit Fatih D., um über den Streit zu reden. Er habe ihn gefragt, ob es wahr sei, dass er Fatih „vor den Augen seiner Mutter“ geschlagen habe. Dann sei Jusef mit Fäusten auf N. losgegangen, dieser habe „nach hinten gefuchtelt, er wollte was ziehen, da bin ich 100-prozentig sicher“.

Auch Onur C. sagt aus, Jusef habe N. geschlagen. „Er war wohl sicher, dass Sven Waffen hat“, und habe ihn vermutlich mit den Schlägen entwaffnen wollen. Dennoch bleibt der Eindruck: Jusef, das Todesopfer, hat in den Streit zwischen Fatih D. und Sven N. nicht mit der gebotenen Zurückhaltung, sondern aggressiv und parteiisch eingegriffen.

Offen bleibt auch nach zwei Prozesstagen einiges. Warum rief Sven N. nicht die Polizei? Warum bewaffnete er sich mit einem Messer und kam aus der Wohnung seines Freundes, vor der diese Gruppe junger Männer stand, die – wie einige nun selbst sagen – recht bedrohlich gewirkt haben muss? Wie kommt die DNA von Ismail Al-E. an eine Machete, die am Tatort gefunden wurde? Glaubt das Gericht seiner Aussage, er habe vor einigen Monaten in einem Keller eine ganze Tüte mit Macheten gefunden, einige mitgenommen und später weggeworfen? Wer hat dann die Machete zum Tatort mitgebracht?

Eines steht fest: Auch mit nur noch sechs Angeklagten hat Richter Schweckendieck ­einiges zu tun. Susanne Memarnia