: Man muss es können
Wanderungen Immer mehr Menschen verlassen die Uckermark. Und doch gibt es auch die Geschichten von Neuankömmlingen – von Aussteigern oder Flüchtlingen. Viel zu holen ist nicht in dem Landstrich. Dennoch gibt es nicht wenige, die einfach dageblieben sind
Aus der Uckermark Svea Weiß und Rainer Schmitt
„Also ich vermisse hier nüscht.“ In einem der abgelegensten Dörfer im Nordwesten der Uckermark steht Ralf Becker vor der Garage seines Freundes, wo sich beide jeden Tag treffen. Um „ein bisschen so umherzufummeln“. Die Wände, die Türen, die Tische alles ist über und über voll mit Elektroeinzelteilen, Werkzeugen und Dingen, die auf den ersten Blick einfach Kram sind. „In die Stadt würd' ich nie gehen! Was soll ich da, da sitzt man ja doch nur auf'm Balkon. Wenn man einen hat. Mich kriegt hier keiner wech, so schnell nich!“ Und dann erzählt er, was nicht nur für sein Dorf Holzendorf gilt. Dass die Gaststätte und der Konsum zugemacht haben. Dass es kein Reitturnier mehr gibt. Keine Veranstaltungen. Und dass das „VE-Gut“, das volkeigene Gut, wo er seit 1978 gelernt und gearbeitet hat, nach der Wende keine Arbeitsplätze mehr hatte.
„Was soll man machen. Da kann man dann jetzt so vor sich hinpriemeln, wie’s irgendwie geht, ne. Man soll sich bloß nicht so schnell unterkriegen lassen. Ne. Anders geht’s nich.“
Die Gründe, in der Uckermark zu bleiben, sind nach dem, was als normal gilt, vielleicht nicht so gut nachzuvollziehen. Deshalb gehen viele. Und das Gehen – und Kommen – ist in der Uckermark vielleicht das größte Thema überhaupt. Die Region ist heute laut vieler Demografen dem Aussterben geweiht. Da wird genau geschaut, wer abwandert und wer zuwandert. Die jungen Leute wandern jedenfalls ab. Vor allem die Frauen. Zwischen 1990 und 2013 hatte die Uckermark einen Einwohnerrückgang von 28 Prozent, 50.000 Einwohner weniger.
Damit, trotz aller Strukturschwäche, auch wieder welche kommen, gibt es in der Uckermark sogar eine „Willkommensagentur“. Rückkehrer, Raumpioniere, Künstler, Berliner … Man redet so viel über die, die – ein Glück! – neu dazukommen, dass die, die einfach schon immer dageblieben sind, manchmal ziemlich sauer werden. Schon Carl Ludwig von Pöllnitz sagte im 18. Jahrhundert, die eingewanderten Hugenotten „milderten die rauen Sitten“ und hätten „Geschmack an Künsten und Wissenschaft“ nach Brandenburg gebracht. Welcher Alteingesessene lässt sich das schon gerne sagen.
Wie auch immer: Wenn man die Uckermark kennenlernen will, dann kommt man um das Thema Zu- und Abwanderung nicht herum. Vielleicht hat das auch gerade unser dokumentarisches Interesse an der Region geweckt. Wie kommt es zum Beispiel zu einer so besonderen Stadt wie Schwedt, die einige einfach nur hässlich und uninteressant finden, die aber bei näherem Hinsehen, viel zu erzählen hat. Nämlich wie man eine kleine Stadt, die im 2. Weltkrieg fast die Hälfte ihrer Einwohner verloren hatte, in den 60er Jahren zur DDR-Industriemetropole aufgebaut hat. Aus dem 6.000-Einwohner-Städtchen Schwedt war 1981 eine Stadt mit Papierfabrik und Petrochemischem Kombinat und 52.000 Einwohnern geworden.
Immer noch zeugen Plattenbauten, breite Straßen und Mosaike von der großen Vergangenheit, in der Schwedt die jüngste Stadt der DDR war. Aber man lernt auch, dass die Einwohnerzahlen nicht erst mit der Wende wieder sanken, sondern dass die Abwanderung schon vor 1990 begann.
Der Schwund: Mit –28 Prozent hat die Uckermark den zweithöchsten Einwohnerrückgang aller Landkreise in Brandenburg zwischen 1990 und 2013. Waren es 1990 noch 169.255 Einwohner lebten 2014 noch 120.829 Einwohner in der Uckermark. Die Prognose des Landesamts für Bauen und Verkehr rechnet bis zum Jahr 2030 mit einem weiteren Rückgang auf dann 103.000 Einwohner.
Die Alterung: Das Durchnittsalter der im Landkreis lebenden Menschen ist von 41,1 im Jahr 2000 auf 48,2 im Jahr 2013 gestiegen.
Die große Stadt: 1830 hatte der Ort Schwedt an der Oder 5.279 Einwohner. 1981 waren es 52.291. Dann begann der große Schwund. 1990 hatte Schwedt 49.443 Einwohner, 2014 waren es nur noch 30.273.
Seit unserer ersten Begegnung mit Schwedt spielt Migration – und das oft ohne Absicht – eigentlich in allen Beiträgen, an denen wir arbeiten, eine Rolle. Und sei es als komplette Abwesenheit des Wunsches, sich überhaupt von seinem Wohnort wegzubewegen. Klar ist, wer Profit sucht, zieht besser woanders hin. Und das ist sicher nicht neu. Aber man kann beispielsweise gut in die Uckermark ziehen, wenn man „diesen ganzen Kommerzkack“ satt hat.
So wie Marko, der mit Mitte 30 Auto und Bauplatz verkaufte, seinen gut bezahlten Job als ITler hinschmiss, nochmal studierte und nun in Damitzow in kleinstem Maßstab Solidarische Landwirtschaft betreibt. Ein Leben ohne Kommerzkack, „das muss man schon können!“ Aber ihm ist die gewonnene Freiheit wichtiger. Marko gilt wohl als Raumpionier. Leute, die an Orte gehen, an die andere nicht mehr gehen, und die dortigen Freiräume nutzen. Dafür bietet sich die Uckermark an. Weil man da auch Platz für Experimente hat, die in einer profitorientierten Gesellschaft nicht unbedingt vorgesehen sind.
Maxino hat sich die Uckermark nicht ausgesucht. Er floh aus Tschad, war acht Jahre lang unterwegs, musste immer weiter, bis er schließlich hier ankam – bis er die Familie Wolters kennenlernte, die ihn einlud, in Bandelow eine Ausbildung zum Landwirt zu machen. „Jetzt habe ich ein normales Leben. Seit acht Jahren hatte ich keins.“ Maxino, der mit 17 Jahren seine Eltern im Bürgerkrieg verlor, sagt, dass er in den Wolters eine neue Familie gefunden hat. Sie haben ihm auch das Ankommen in der Dorfgemeinschaft erleichtert. Denn ansonsten wären hier im Dorf 70 Prozent gegen Fremde, sagt der Kapitän von Maxinos neuer Fußballmannschaft.
Familie Wolters ist selbst aus den Niederlanden eingewandert. Es gibt einige Neu-Uckermärker, die daher kommen: Dort ist es eng und hier in der Uckermark gibt es viel Platz.
Anfang des Jahres kam die Meldung, die Abwanderung im Osten sei gestoppt. Sogar in der Uckermark. Tatsächlich hat Schwedt „genau 93 Einwohner mehr als ein Jahr zuvor. Alleiniger Grund ist der verstärkte Zuzug von Flüchtlingen“, so die Märkische Oderzeitung.
In der Geschichte der Uckermark gab es früher schon die Momente, in denen man froh sein konnte über den Zuzug von geflüchteten Menschen. Im Dreißigjährigen Krieg beispielsweise verlor die Region die Hälfte ihrer Bevölkerung. Als die Hugenotten auf Einladung des Kurfürsten vor 300 Jahren in die Uckermark kamen, war der Krieg bereits seit einem halben Jahrhundert vorbei und immer noch lagen 70 Prozent der Höfe brach.
Es gäbe noch so viel mehr Geschichten über das Kommen und Gehen in der Uckermark zu erzählen. Zum Beispiel vom Dorf Wallmow, wo man um die Mitte des 19. Jahrhunderts, im Zuge der großen Auswanderungswelle „nach Übersee“ eine regelrechte Massenflucht erlebte, bei der auch Küster und Lehrer, Weber, Schneidermeister und Schuhmacher, Schäfer, Bauern und Bauernsöhne und die verwitwete Gutsbesitzerin das Dorf verließen. Wallmow ist heute dafür berühmt, dass seit 1990 260 Erwachsene zugezogen sind und dort aktuell 70 Kinder leben.
Es bleibt einfach ein Kommen und Gehen.
Svea Weiß und Rainer Schmitt entdeckten die Uckermark erst vor wenigen Jahren und waren fasziniert vom „unfertigen“ Charakter der Region. Heute arbeiten sie an einem dokumentarischen Archiv zur Uckermark, das ab Juni 2016 mit Filmen, Fotos und Texten online stehen wird.
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