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Kleine schmutzige Geschichten

wiederlesen Hanns Zischler liest „Der dritte Mann“. Eine Neuübersetzung, ein Hörbuch und der alte Film regen zu einer Wiederbegegnung mit Graham Greenes Thriller aus Kaltem Krieg und Schwarzmarktzeiten an

Kein Bösewicht von Format, nur ein mieser Schieber mit gepanschtem Penicillin: Orson Welles alias Harry Lime Foto: KPA Archival Collection/SZ Photo

von Jochen Schimmang

Das Motiv, das zu seinem Ruhm am meisten beigetragen hat, stammt gar nicht von ihm. Der österreichische Zitherspieler Anton Karas hat es komponiert, und seine Musik begleitet den Zuschauer durch den gesamten Film „Der dritte Mann“. Anders, als man annehmen könnte, ist das Meisterwerk von Carol Reed nicht die Verfilmung eines Romans von Graham Greene. Greenes Text, den Roman zu nennen heutigen Gepflogenheiten entspricht, ist für den Autor nichts weiter gewesen als eine zur Vorbereitung eines Drehbuchs geschriebene Erzählung. Folgerichtig heißt es in Greenes Vorwort gleich im ersten Satz: „ ‚Der dritte Mann‘ wurde nicht geschrieben, um gelesen, sondern nur, um gesehen zu werden.“

Dennoch kann man ihn natürlich lesen, jetzt in neuer Übersetzung von Nikolaus Stingl. Dass Übersetzungen altern und ab und zu des Liftings bedürfen, ist eine Binsenwahrheit. Dennoch war die erste Übersetzung von Fritz Burger aus dem Jahr 1951 keineswegs schlecht, und Nikolaus Stingl tut auch nicht so, als müsse er hier völlig Neues leisten. Man kann sogar darüber streiten, ob nicht beispielsweise Greenes „One never knows when the blow may fall“ in der 51er-Übersetzung mit „Man weiß nie, wann das Schicksal zum Streich ausholen wird“ nicht adäquater als mit Stingls „Man muss immer darauf gefasst sein, dass etwas Unvorhergesehenes passiert“ wiedergegeben ist.

Aber Übersetzungsvergleiche können ins Endlose führen – ein beliebtes Objekt dafür ist Marcel Proust – und stehen hier gar nicht auf der Tagesordnung. Gut jedenfalls, dass Zsolnay Greenes bekanntesten Titel (der beste ist nach wie vor der Roman „Der stille Amerikaner“) zum 25. Todestag des Autors neu herausgebracht hat.

Und mehr noch. Stingls Neuübersetzung ist gleichzeitig als Hörbuch für den Audio-Verlag eingelesen worden, von niemand Geringerem als Hanns Zischler, der der Neuausgabe außerdem ein Nachwort beigesteuert hat. Zischler ist bekanntlich ein Wanderer zwischen den Medien, und es ist schön sich vorzustellen, dass er, wäre er 1949 nicht noch ein Kleinkind gewesen, in Reeds Film vielleicht die Rolle des Baron Kurtz oder des Dr. Winkel gespielt hätte. In Greenes Text hieß der noch Winkler, mutierte dann aber zum Winkelarzt. Zischlers Lesung jedenfalls ist sehr schön anzuhören, gerade auch dort, wo es stark wienerisch wird und der Baron Kurtz oder der Hauswirt sprechen.

Der Text allein aber wäre nur ein weiterer Titel in der umfangreichen Reihe von Graham Greenes Romanen und Erzählungen, gäbe es Reeds Film noir nicht. Dessen Faszination ist – man mache den Test des Wiedersehens – bis heute nicht verblasst, und das liegt am wenigsten an der Figur des Harry Lime und am sehr begrenzten Auftritt von Orson Welles, der ihn verkörpert. Dass Zsolnay auf der Umschlagseite 4 bei der Erwähnung des Films nur die Namen von Welles und von Joseph Cotton nennt, Alida Valli, Trevor Howard und die Riege der österreichischen Schauspieler aber nicht erwähnt, ist ein Unding, lässt sich aber leicht korrigieren, indem man sich den Film einfach ansieht, gern auch mehrmals und unter verschiedenen Aspekten.

Erbärmliche Mitteleuropäer

Werfen wir zunächst einmal einen Blick auf seinen Aktualitätswert. Die vier Mächte, die da außer der Stadt Berlin auch die Stadt Wien unter sich aufgeteilt haben, operieren ja in failed states, nicht anders als heute zusammengestellte internationale Eingreif- und Ordnungstruppen auch. Sie sind „Ordnungsmächte“, die gleichwohl ihre unterschiedlichen Interessen verfolgen. „Der dritte Mann“ und der Umgang des Films mit Licht und Schatten betont dies ausdrücklich – spielt vorrangig im Zwielicht, in einer Grauzone, in der nicht immer durchschaubare Gesetze bestimmen, wer sich wo aufhalten darf oder nicht. Die Geschichte um die Identität der Anna Schmidt in diesem Film ist dafür exemplarisch.

In der Folge davon hat der Film einen stark kolonisatorischen Aspekt; soll heißen, die Besatzungsmächte, die angelsächsischen vor allem (Frankreich tritt eigentlich nur sehr kurz in der „Lippenstiftszene“ auf), sind Kolonialmächte, die sich unter anderem die politische und kulturelle Erziehung der Besiegten angedeihen lassen. Nicht zuletzt jenes britische Kulturinstitut, in dem Holly Martins seinen absurden Auftritt vor einem literarisch gebildeten Publikum hat, ist Ausdruck davon.

Entsprechend sind die Besiegten und Besetzten allesamt irgendwie erbärmliche und hinterhältige Personen; der verlogene Baron Kurtz, der fadenscheinige Dr. Winkel, die keifende Vermieterin des Hauses, in dem Anna Schmidt wohnt, selbst noch der von Paul ­Hörbiger gespielte Portier, der zum Mordopfer wird: lauter Mittel­europäer, die für gigantische Verbrechen verantwortlich zeichnen und von den universalistischen Werten des Westens weit entfernt sind.

Wenn sie gute Zigaretten haben wollen, müssen sie entweder auf den Schwarzmarkt oder aber bei den Briten und Amerikanern betteln. Aber offensichtlich, eine kleine Absurdität dieses Films, können sie alle Englisch, der Baron genauso wie der Portier. Und Holly Martins kann offensichtlich Deutsch, sonst könnte er Anna Schmidt nicht beim Rollenstudium helfen. Wo hat er das gelernt?

Dagegen nun der geheime Held und Erzähler des Romans und des Films: Major Calloway, im Film verkörpert von einem großartigen Trevor Howard. Dass er der Erzähler der Geschichte ist, vergisst man zwar zuweilen, wird aber immer daran erinnert. Calloway – „nicht Callaghan, ich bin Engländer, kein Ire!“ – ist die Reinkarnation der zwar schwachen, aber beharrlichen Vernunft.

Keine Illusionen

Er macht sich – im Gegensatz zu allen anderen – keine Illusionen, er weiß, wie es zugeht auf der Welt (das hat er mit Graham Greene gemeinsam), und stemmt sich doch mit den bescheidenen Mitteln, die er hat, entschlossen dagegen und darf sich am Ende eines ebenso bescheidenen Sieges erfreuen: Harry Lime ist eliminiert. Calloway ist der Brite par excellence, und „Der dritte Mann“erzählt in der Tat nur die Heldengeschichte zu Ende, die im Jahr 1940 mit einer Rede von ­Winston Churchill begonnen hatte.

Ach ja, und Orson Welles alias Harry Lime, wie er hier und da aus dem Schatten auftaucht und dann wieder verschwindet. Er ist kein Bösewicht von Format, keine Shakespeare-­Figur, trotz seines Bramabarsierens über Cesare Borgia und „Schweizer Kuckucksuhren“. Er ist einfach nur ein mieser Schieber mit gepanschtem Penicillin, ein ganz gewöhnlicher Verbrecher. Dass er am Ende zur Strecke gebracht wird, verfolgt man mit Genugtuung und ohne Mitleid, aber es ist der unwichtigste Strang in der ganzen Erzählung. Und während Lime in Greenes Ursprungstext noch Engländer war, wird er in Reeds Film – wie Holly Martins auch – zum Amerikaner. Und die Amerikaner, das weiß man ja, haben Graham Greene vierzig Jahre lang geheimdienstlich überwacht.

„Der dritte Mann“, man muss es voller Wehmut sagen, entstammt einer Zeit, als es noch die großen Erzählungen gab, die ziemlich raffiniert als kleine schmutzige Geschichten daherkamen.

Graham Greene: „Der dritte Mann“. Roman. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2016, 159 Seiten, 18,90 Euro

Graham Greene: „Der dritte Mann“. Ungekürzte Lesung von Hanns Zischler. 3 CDs, Laufzeit 3 Std. 53 Min. Audio-Verlag, 19,99 Euro

Carol Reed: „Der dritte Mann“. Spielfilm. GB 1949, 104 Min. Erhältlich als DVD und Blue-Ray

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