Die Rückkehr der Romantik (I)

Die fetten Jahre kommen nie wieder, und auch Freundschaft kann Utopie sein: Tilman Rammstedts Beziehungsroman „Wir bleiben in der Nähe“

Irgendwann um die 30 geht es los. Wie abgesprochen beginnen befreundete Paare zusammenzuziehen, die beste Freundin erzählt, dass sie jetzt die Pille absetzt, und bei Fahrten ins Umland wird heimlich nach feiertauglichen Landschlösschen Ausschau gehalten. Diejenigen, die eher auf Freundschaften gesetzt haben als aufs Paardasein, sehen hilflos dabei zu, wie langjährig stabile Moleküle in lauter Zweierverbindungen zerfallen.

Tilman Rammstedt, Jahrgang 1975, ist vermutlich im richtigen Alter, um über das Unbehagen am Erwachsenwerden zu schreiben. Vor zwei Jahren hat er einen Band mit Erzählungen veröffentlicht, „Erledigungen vor der Feier“, der in kurzen Episoden emotionale Irrungen und Wirrungen von unter Dreißigjährigen schildert. Sein Romanerstling „Wir bleiben in der Nähe“ knüpft an die Erzählungen an.

Aus den Twens sind Thirty-somethings geworden, die, ohne es zu merken, in ein vernünftiges und/oder desillusioniertes Erwachsenenleben hereingerutscht sind. So wie Felix, Konrad und Katharina. Sie waren einst beste Freunde; wegen Beziehungskrach – Katharina liebte beide Männer – löste sich das Dreieck auf. Nach drei Jahren Funkstille bekommen Felix und Konrad eine Einladung zu Katharinas Hochzeit in Hamburg. Konrad und Felix fahren schon früher, um Katharina zu überraschen. Als die sich überrumpelt fühlt und die alte Vertrautheit sich nicht einstellen mag, wird sie von den beiden, mit Schlaftabletten betäubt, in ein Ferienhaus nach Finistère entführt. Am Ende der Welt, am Meer, mitten im November, soll ein neuer Anfang für alle her.

„Wir bleiben in der Nähe“ vereinigt einige klassische Zutaten von Selbstfindungstrips – das „On the Road“-Gefühl der Fahrt nach Frankreich mit der schlafmittelbetäubten Katharina auf dem Rücksitz, das Meer als ultimativer Sehnsuchtsort – mit bekannten Motiven: dem Ferienhaus, der Beziehungsanatomie, der Überschreitung. Judith Hermanns Erzählungen und Hannes Weingartners Film „Die fetten Jahre sind vorbei“ sind hier die Referenzen. Das Buch beginnt am Meer, am Strand, wo Felix die Geschichte im Rückblick erzählt.

Es bleiben noch vier Stunden bis zur geplanten Rückreise, und während er verzweifelt nach einem Grund sucht, nicht einfach zurückzufahren, wirklich etwas zu ändern, erinnert sich Felix, was bis dahin geschehen ist. Ein schöner Kunstgriff, der Spannung erzeugt, weil der Erzähler bis zum Schluss nicht mehr weiß als die Leser. Was den Roman antreibt und ihn mit Weingartners Film verbindet, ist der Wunsch nach Veränderung, für den auch ein krasser Übergriff – eine Entführung – in Kauf genommen wird. Dabei bleibt das Unbehagen am eigenen Leben und an der Welt bei Rammstedts Figuren diffus und ideologiefrei.

Als Katharina eine Begründung fordert, warum sie die Auszeit akzeptieren und ihr Leben ändern soll, reagieren Felix und Konrad hilflos. Abends diskutieren die beiden über ihre Gründe: „Weil es so nicht weitergehen konnte.“ „Was konnte so nicht weitergehen?“ „Na, alles.“ … „Bei Katharina oder bei uns oder in der Welt?“ „Das hängt doch alles zusammen.“ Die Hilflosigkeit angesichts einer überkomplexen Welt, das Problem allen Nach-68er-Aufbruchs, ist aber kein Grund zum Aufgeben. Das zu zeigen gibt Rammstedts Roman den Schub, auch und gerade dann, wenn wenig passiert. Die Beschreibungen der existenziellen Langeweile, die sich angesichts der sich lange nicht lösen wollenden Fremdheit, des Regenwetters und kaputter Brettspiele einstellt, gehören zu den besten Stellen im Buch.

Mit seiner Sehnsucht nach einem Leben jenseits bürgerlicher Verplantheit, nach mehr Weite, nach Seelenverwandtschaft, ist Felix, der Glückssucher, ein später Nachfahre der Romantiker und gleichzeitig sehr gegenwärtig. Freundschaft ist die Utopie des Romans, der Gegenentwurf zum bürgerlichen Tunnelblick: Das Beharren auf privatem Glück kann ein revolutionärer Akt sein.

ULRIKE MEITZNER

Tilman Rammstedt: „Wir bleiben in der Nähe“. DuMont-Verlag, Köln 2005, 237 Seiten, 19,90 €