Ein Käsecroissant als Riss im Glück

Die etablierte koreanische Literatur gilt als sperrig und der Trauerarbeit verpflichtet, ist aber auch poetisch und sinnlich. Jüngere Autoren dagegen vertrauen mehr auf Geschichten und die Haptik der Dinge. Eine Durchsicht der aktuell ins Deutsche übersetzten Romane und Erzählungen aus Korea

Hwang Sok-yongs „Der ferne Garten“ ist Schmerzensliteratur der alten SchuleDie rasante Modernisierung ist ein Topos vieler jüngerer Autoren

von SUSANNE MESSMER

Es gibt im Koreanischen einen Begriff, der an den der Melancholie erinnert: „Han“ bezeichnet Schmerzen, Qualen, Ängste, Gefühle des Verlusts, der Trauer, Enttäuschung oder Schwermut –ein Leid, das sich nicht vermeiden lässt, das aber manchmal ähnlich produktiv werden kann wie die Melancholie, viel produktiver jedenfalls als Enthusiasmus oder andere alberne Überschwänglichkeiten. Wäre außerdem an der leicht fahrlässigen Charakterzusammenfassung auch nur ein Krümel Wahrheit, nach der die Koreaner in Bezug auf ihre Empfindsamkeit die Italiener des fernen Ostens sind – man käme dem, was in diesem Herbst rund um den Länderschwerpunkt der Frankfurter Buchmesse an koreanischer Literatur ins Deutsche übertragen wurde, einigermaßen nah.

Ganz egal, ob sich koreanische Schriftsteller der Beschreibung der japanischen Kolonialzeit, des Kriegs oder der Teilung des Landes verschrieben haben, ob sie etwas später geboren sind und vor allem über die Rebellion gegen die Militärdiktatur schreiben oder ob sie noch später geboren sind und sich die rasante Modernisierung des Landes, das freie und einsame Leben in der großen Stadt vorgenommen haben: Keine einzige der Geschichten und Romane, die gerade erschienen ist, kann von sich behaupten, in irgendeiner Weise amüsant zu sein. Und trotzdem sind entgegen allen Meinungen, koreanische Literatur sei oft sperrig und zu verzweifelt, einige dabei, die weit mehr sind als düstere Leidensgeschichten zum ausschließlichen Zweck der Trauerarbeit.

Eines der großartigsten Beispiele für Schmerzensliteratur der alten Schule, die aber dennoch nicht nur auf-, ab- oder durcharbeitet, sondern sehr poetisch ist, ist „Der ferne Garten“, einer der beiden Romane des 1943 geborenen Autors Hwang Sok-yong, die jetzt ins Deutsche übertragen worden sind. Hwang Sok-yong, heißt es, hat in seinem Land ein ähnliches Ansehen wie Günter Grass hier – liest man allerdings in diesem Roman, dann versteht man schon nach wenigen Seiten, warum er in Korea, anders als Günther Grass in Deutschland, auch von jungen Lesern geliebt wird.

Erzählt wird die Geschichte des politisch engagierten Studenten Hyunuh Oh, der nach 17 Jahren politischer Gefangenschaft in ein Südkorea entlassen wird, in dem er sich nicht mehr auskennt. Zunächst nimmt ihn seine Schwester auf, die ihm nach einigen Tagen Briefe seiner ehemaligen Geliebten, der Malerin Yunhi Han, überreicht, die er im Gefängnis nicht bekommen durfte.

So erfährt er erst jetzt, dass Yunhi Han schon vor Jahren gestorben ist, dass sie aber eine Tochter von ihm bekommen hat. Er fährt in das Haus auf dem Land, wo sich das Paar bis kurz vor seiner Verhaftung versteckt hielt und das Yunhi Han vor ihrem Tod gekauft und renoviert hat. Durch die fragmentarischen Erinnerungen von Hyunuh Oh und die Tagebücher von Yunhi Han, die er im Haus findet, setzt sich sehr vielstimmig und dadurch beeindruckend behutsam die Geschichte des Engagements der beiden für die Demokratisierung ihres Landes zusammen, die seiner Verfolgung und Gefangenschaft und die ihres Lebens ohne ihn.

Doch handelt dieses Buch nicht nur von dem historischen Hintergrund von Kwangju, von der Brutalität des Militärregimes, der Desillusionierung, dem Zerfall der Ideale, der Utopien und der Gemeinschaft der Rebellen von damals. Es lädt außerdem dazu ein, die völlig subjektiven und sehr privaten Blickwinkel der beiden Liebenden einzunehmen, ihre Hoffnungen und Ängste nachzufühlen und ihren letzten und, wie sie wissen, sehr endlichen Versuch, mit dem Landhaus eine unberührte Insel zu bauen, in der nur der gemeinsame Alltag zählt. Es gehört zu den schönsten Momenten dieses Romans, wenn er sich daran erinnert, wie sie das Haus bezogen und renovierten, wie sie bei Kerzenlicht provisorische Mahlzeiten einnahmen und sich neben dem Herd die Haare wuschen – oder wenn er in ihrem Tagebuch liest, wie sie zusammen einkaufen gingen oder sich einen Gemüsegarten anlegten und „Furchen für die Samen zogen“.

In diesen Schilderungen des Alltags, der deshalb so wichtig und so greifbar wird, weil er so bedroht ist, ist „Der ferne Garten“ nicht nur Hwang Sok-yongs anderem Roman „Die Geschichte des Herrn Han“ überlegen – dem Entwicklungsgang eines seltsam unnahbar wirkenden nordkoreanischen Arztes, der im Exil, in Südkorea, an den Auswirkungen des Kriegs und den Folgen der Teilung zerbricht. Er überragt außerdem stilistisch alle Geschichten und Romane seiner Altersgenossen, die jetzt erschienen sind. Etwa den Kurzroman „Befestigter Gesang“ in der Anthologie „Die Sympathie der Goldfische“ von Yi Munyol, dem koreanischen Martin Walser, als der er der Einfachheit halber öfter eingeordnet wird: ein konstruiertes Lehrstück über Gewalt und Verrohung im koreanischen Militär.

Oder die Erzählung „Die Gerüchtemauer“ von Yi Chong-jun: eine endlose und noch dazu holprig übersetzte Reflexion, deren Resümees wieder und wieder zusammengefasst werden und womöglich der Kürzungen bedurft hätten. Schade, denn anders erzählt wäre das Thema reizvoll gewesen: Es geht um einen Schriftsteller, der wahnsinnig wird, weil er die Erwartungshaltung seiner Leser nicht erkennt.

Auf mehr Lust am Geschichtenerzählen und Vertrauen in die Haptik der Dinge stößt man, wenn man sich auf der Suche nach interessanter Prosa aus Korea auf Autoren einlässt, die um 1970 und später geboren sind. Hier wird man zunächst in der Anthologie „Koreanische Erzählungen“ fündig, der besseren der beiden Sammlungen in diesem Herbst, weil sie sich nicht nur auf bewährte Autoren verlässt und daher breiter gefächert ist. Die schönste und mutigste ihrer Erzählungen, die sich fast nur noch auf eine Art Subjektivität verlässt, wie sie Hwang Sok-yong gerade erst anrührt, ist die der 1970 geborenen Autorin Han Kang.

Die Geschichte ist allein deshalb experimenteller als die vieler älterer Autoren, weil der Werdegang der jungen und schon zerbröselnden Ehe nicht aus Sicht der Hauptperson, der unglücklichen Ehefrau, geschildert wird, sondern aus der des zufriedenen, nicht unsympathischen Ehemanns, den allerdings nichts so schnell aus der Ruhe zu bringen scheint. Zunächst fällt ihm nur auf, wie elend seine Frau in letzter Zeit aussieht und dass sie ein paar blaue Flecken hat, die er sich nicht erklären kann. Er reagiert verständnislos, als sie ihm eines Tages erklärt, sie halte es in diesem Apartmenthochhaus nicht mehr aus, an einem Ort, wo sich „hunderte, tausende gleiche Wohnungen, Küchen und Decken, Toiletten, Badewannen und Balkone“ befinden. Erst als sie am ganzen Leib immer grauer und dann grüner wird und sich schließlich ganz in eine Balkonpflanze verwandelt hat, beginnt er zu begreifen.

Dass es auch in einer Welt ohne Kriege und andere gesellschaftlichen Großkatastrophen nicht immer leicht ist, als Individuum zu sich zu kommen und dabei nicht zu vereinsamen, zeigt auch der sinnliche und tieftraurige Roman „Zeit zum Toastbacken“ der 1969 geborenen koreanischen Autorin Jo Kyung-Ran. Dieser Roman, erschienen im Pendragon Verlag, beweist, dass nicht alle Romane bei kleinen Verlagen, die auf Subventionen koreanischer Kulturinstitutionen angewiesen sind, schlecht übersetzt sein müssen: Fast nichts vom knappen und punktgenauen Ton der Autorin scheint in dieser Übertragung verloren.

In schneller Folge verliert die Ende zwanzigjährige Yochin nicht nur ihren Liebhaber, der sein Gedächtnis verloren hat, sondern auch ihre krebskranke Mutter und ihren lebensmüden Vater. Sie beschreibt dann, woran sie sich in dieser Zeit des Verlusts, einer Übergangsperiode, in der sich alles anfühlt wie in Watte gepackt, vor allem festhält: am Backen. Man liest viel über die Rezeptur von Toastbrot, die Art und Weise, wie man süße Brötchen formt oder wie man den Teig für Crêpes anrührt. Nie werden die Gefühle der Trauer und des Verlusts direkt angesprochen. Eher kommen sie zum Ausdruck in der Art, wie sich diese Menschen durch ihren Alltag bewegen und wie ihnen die Dinge, die in ruhigeren Zeiten kaum auffallen, plötzlich machtvoll entgegentreten.

Einmal erzählt Yochin auf diese Weise auch von ihrer Mutter, die sie ansonsten eher kühl beschreibt: Sie schildert, wie die Mutter, als sie noch gesund war, immer morgens am Küchentisch saß und ein Croissant aß, und wie sie ihrer Tochter danach aus einem anderen Croissant ein Sandwich machte, wie sie „eine Creme aus zusammengerührtem Weichkäse und Butter, beides schaumig geschlagen“ auftrug, wie sie „Zwiebeln hackte“ und „Karotten und Paprika in Streifen schnitt“. Minutiös werden die mehr als zehn verschiedenen Arten beschrieben, wie die Mutter diese Croissants zubereitete – und es wird angefügt, dass sie nie vergaß, den Käse wegzulassen, der Yochin nicht schmeckte. „Von einem bestimmten Tag an enthielt das Croissant, das ich essen sollte, den Käse“, heißt es dann. „Von da an hatte das Glück, in dem ich damals gelebt hatte, einen Riss.“ Wie in „Zeit zum Toastbacken“ der Ausbruch einer Krankheit und der Beginn eines schweren Abschieds beschrieben wird: Das ist ergreifend. Mag sein, dass also auch die Prosa jüngerer koreanischer Autoren selten leichte Kost ist. Sperrig ist sie deshalb noch lange nicht.

Hwang Sok-yong: „Der ferne Garten“. Aus dem Koreanischen von Kang Seung-hee, Oh Dong-sik und Torsten Zaiak. dtv, München 2005, 519 Seiten, 15 € Hwang Sok-yong: „Die Geschichte des Herrn Han“. Aus dem Koreanischen von Kang Seung-hee, Oh Dong-sik und Torsten Zaiak, dtv, München 2005, 135 Seiten, 12 € „Die Sympathie der Goldfische“. Erzählungen aus Südkorea. Herausgegeben von Friedhelm Bertulies, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005, 286 Seiten, 15 € „Koreanische Erzählungen“. Herausgegeben von Sylvia Bräsel und Lie Kwang- sook. dtv, München 2005, 253 Seiten, 9 € Yi Chong-jun: „Die Gerüchtemauer“. Zwei Erzählungen. Aus dem Koreanischen von Oh Soon-hee und Birgit Mersman. Edition Peperkorn, Thunum/Ostfriesland 2005, 223 Seiten, 18 € Jo Kyung-ran: „Zeit zum Toastbacken“. Aus dem Koreanischen von Jung Young-sun und Herbert Jaumann. Pendragon Verlag, Bielefeld 2005, 147 Seiten, 18,50 €