Der Muster-Prozess

Der Prozess gegen Saddam Hussein entscheidet nicht nur das Schicksal des ehemaligen Herrschers des Irak. Er entscheidet auch über die Glaubwürdigkeit der Aufarbeitung der Vergangenheit und des irakischen Justizsystems

Der Prozess sollte Genugtuung für die Opfer bringen. Nun hagelt es Kritik von Menschenrechtsorganisationen

AUS KAIRO KARIM EL-GAWHARY

Mindestens 300.000 Menschen sind seinem Unterdrückungsapparat zum Opfer gefallen, nicht zu sprechen von den Gefallenen der Kriege, die er angezettelt hat. Heute wird Saddam Hussein al-Madschid al-Tikriti in Bagdad seinen Richtern vorgeführt, 22 Monate nachdem der verlotterte Diktator a. D von US-Soldaten in einem Erdloch aufgegriffen worden war. Zusammen mit sieben anderen Vertretern des alten Regimes wird ihm als Kriegsverbrecher und als Verbrecher gegen die Menschlichkeit der Prozess gemacht.

Das Verfahren findet unter ungewöhnlichen Umständen statt. Unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen tritt Saddam in der von US-Soldaten schwer bewachten Grünen Zone vor seine fünf Richter. Deren Identität wird aus Sicherheitsgründen geheim gehalten.

Ungewöhnlich ist auch das Tribunal selbst. Anders als in den sonst üblichen Kriegsverbrecherprozessen, wird Saddam von seinen eigenen Landsleute abgeurteilt. Die Richter können die Todesstrafe aussprechen.

Eher befremdlich ist auch der Fall selbst, der zuerst verhandelt wird. Statt sich mit den 300 Massengräbern und den 40 Tonnen gesicherten Dokumenten des Baath-Regimes auseinander zu setzen, beschäftigt sich das Tribunal mit einer Episode aus der Frühzeit von Saddams blutiger Herrschaft. Zur Verhandlung steht ein Fall aus der schiitischen Kleinstadt Descheel 40 Kilometer nördlich von Bagdad. Dort hatten 1982, drei Jahre nach Saddams Amtsantritt, ein Dutzend Verschwörer in den Palmenhainen vor der Stadt mit Gewehren und einem schweren Maschinengewehr dem brutalsten Herrscher der neueren arabischen Geschichte aufgelauert. Der jedoch hatte zuvor das Fahrzeug gewechselt. Die Attentäter, Mitglieder der schiitischen Dawa-Partei, der auch der heutige irakische Ministerpräsident Ibrahim Dschaafari angehört, wurden bereits auf der Flucht erschossen. Doch das war Saddam nicht genug. Über 20 Tage lang wüteten seine Schergen unter der Leitung seines Halbbruder Barzan al-Tikriti in der von Panzern umstellten Stadt. 143 Männer und Jugendliche wurden hingerichtet. Viele andere verrotteten in den Kerkern. Die Palmenhaine, Lebensgrundlage der Bewohner, wurden niedergebrannt.

Die Staatsanwaltschaft hofft die direkte Verwicklung Saddams in diesen auf 800 Seiten gut dokumentierten Fall nachweisen und das Verfahren relativ schnell zu Ende zu bringen. Kritiker bezeichnen dieses Vorgehen als „zu eng“ und fragen, wann die wesentlich blutigere Niederschlagung des schiitischen Aufstandes 1991, der Gebrauch von Chemiewaffen gegen die Kurden in Halabdscha 1988, der iran-irakische Krieg, in dem ebenfalls Chemiewaffen zum Einsatz kamen, und der völkerrechtswidrige Einmarsch nach Kuwait als Anklagepunkte auf dem Programm stehen. Sie befürchten, dass Saddam zu Tode verurteilt und exekutiert wird, bevor das ganze Ausmaß des Grauens seiner Herrschaft öffentlich verhandelt wird.

Viele Iraker glauben jedoch, dass ein Urteil, gar ein Todesurteil nicht unterschrieben wird, bevor auch die andern Verbrechen Saddams zur Verhandlung standen. Eine weitere Akte soll kurz vor dem Abschluss stehen. Dabei geht es um die Anfal-Offensive, der in den 80er-Jahren rund 180.000 Kurden zum Opfer gefallen sein sollen. Möglicherweise werden die Fälle Descheel und Anfal demnächst in zwei parallelen Verfahren gleichzeitig behandelt. Das deuteten zumindest Mitglieder des Tribunals an.

Als Genugtuung für die Opfer war der Prozess geplant, nun aber hagelt es Kritik von Menschenrechtsgruppen, wie amnesty international und Human Rights Watch (HRW). Sie fragen nicht nur, ob das irakische Tribunal das angemessene Forum ist, um unter die Ära Saddam einen Schlussstrich zu ziehen. Sie äußern auch Zweifel über die Fairness des Prozesses. Eines der größten rechtlichen Probleme sei dabei die Bewertung von Beweisen. Denn für das irakische Tribunal gilt nicht der Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“. Der wurde ersetzt durch ein Prinzip, laut dem die Beweise den Richter lediglich „zufrieden stellen“ müssen, um den Angeklagten schuldig zu sprechen.

Wenig hilfreich, so HRW, seien auch die Interventionen irakischer Politiker, wie die des kurdische Präsidenten Dschalal Talabani, einer von drei Irakern, der eine Todesstrafe gegen Saddam unterschreiben müsste. „Saddam ist ein Kriegsverbrecher und sollte 20-mal am Tag exekutiert werden“, ließ dieser wenig staatsmännisch verlauten.

Und dann ist da noch das Problem, wie stark die Amerikaner in die Findung irakischer Gerechtigkeit eingebunden sind. Über 128 Millionen Dollar hat der US-Kongress für die Finanzierung des Tribunals bewilligt. Die Europäer wollten nicht bezahlen, solange nicht die Todesstrafe abgeschafft ist. Dem Tribunal stehen ausländische Berater zur Seite. Fast alle kommen aus dem „Verbindungsbüro für Regimeverbrechen“. Das untersteht direkt der US-Botschaft in Bagdad.

„Das ganze Tribunal wurde von den Besatzern eingesetzt“, sagte Abdel Haq Alani, ein im Irak geborener britischer Staatsbürger, der die Verteidigung berät, der britischen BBC. Laut internationalem Recht sei es illegal, das Rechtssystem eines besetzten Landes zu ändern. Die 143 damals Exekutierten seien „nach damaligem irakischem Recht für schuldig befunden und von einem irakischen Strafgericht zum Tode verurteilt worden. Das hat der Präsident dann unterschrieben“, argumentiert er. Was sei denn rechtlich der Unterschied zu den Todesurteilen, die George Bush als Gouverneur von Texas unterschrieben habe, fragt er provozierend.

Der heutige Prozessauftakt wird im Fernsehen übertragen, mit einer 20-minütigen Verzögerung aus Sicherheitsgründen und um etwaige Ausfälle Saddams herauszuschneiden, wie es heißt. Wahrscheinlich wird der Prozess schnell vertagt, für mehrere Wochen oder sogar bis nächstes Jahr.