Unter Wasser

Unzusammenhängende Katastrophen, unheimliche Mächte, rätselhafte Zufälle: Gerd Loschütz hat mit „Dunkle Gesellschaft“ einen fulminanten Erinnerungsroman in zehn Regennächten geschrieben

von MAJA RETTIG

„Hüte dich vor den Dunklen, den Starren“, hatte der Großvater das Kind Thomas gewarnt, ohne dass dieses begriffen hätte, worum es ging. Viel später sieht der Flussschiffer Thomas eine Gruppe von Schwarzgekleideten, Starrblickenden auf dem Deck eines Schiffes vorüberziehen. „Tags darauf stießen in Süddeutschland zwei Züge zusammen; meine Katze wurde von einem Verrückten, der sich am Ufer herumtrieb, vergiftet; von der Reederei […] erfuhr ich, dass mein Patent […] seine Gültigkeit eingebüßt hatte; über Nacht stürzten die Börsenkurse auf den tiefsten Stand seit vielen Jahren“ – und weitere schlimme Folgen. Folgen, wirklich? Gibt es da einen Zusammenhang? Nicht, dass je klar würde, wer die „Dunkle Gesellschaft“ ist und wie groß ihre unheimliche Macht.

Gerd Loschütz’ gleichnamiger Roman ist ein düsteres, unheimliches Traumgebilde, aber er ist auch komisch und leise unernst. Schon die absatzlange Häufung von unzusammenhängenden Katastrophen wirkt in all ihrer erschreckenden Wucht zugleich komisch. Der Flussschiffer Thomas beschließt nach alledem, sich von Flüssen künftig fern zu halten. Doch das Wasser, muss er einsehen, folgt ihm aufs platte Land: als Regen, als Hochwasser. Zuletzt muss man ihn per Schlauchboot vor seiner Dachluke abholen. In den zehn Nächten zuvor geht er nachts spazieren. Hier kommen in lockerer, unchronologischer Reihung die Erinnerungen her, die die zehn Kapitel dieses „Romans in zehn Regennächten“ ausmachen.

Genauso suggestiv wie das Klamme, Unwirtliche nächtlichen Dauerregens in der Rahmenhandlung vermittelt sich die gleichfalls nächtliche, traumlogische, neblig-abenteuerliche Stimmung der Episoden um den Schiffer, voller Hinterzimmer, Hafenspelunken, rätselhafter Frauen. Morde geschehen, bleiben ungeklärt. Leute verschwinden, kehren wieder, werden verwechselt oder tauchen doppelt wieder auf. Träume werden von anderen genauso geträumt, Gedanken scheinbar gelesen.

Es geht um Zufälle, die vielleicht keine sind, um krasse Umschwünge, den urplötzlichen Einbruch des Dunklen. Was wie zusammenhängt und ob überhaupt, was wofür Zeichen ist, wird niemals klar. Was bedeuten die „drei schwarzen, übereck gesetzten Punkte“ einer Tätowierung? Was die wiederkehrende Zahl Null Vierzig? Wer es unbedingt entschlüsseln will, geht in die Falle.

Der 1946 geborene Loschütz setzt seine Rätsel nicht als Symbole ein, sie bleiben unaufgelöst und unkommentiert. Nichts geht auf im Sinne einer Lösung. Schon gar nicht das titelgebende Rätsel, die Dunkle Gesellschaft. Hier demonstriert der Text seine Leichtigkeit, auch seine Launigkeit, allzu wichtig nimmt er sein Hauptmotiv nämlich nicht. Die Dunklen, Starren tauchen insgesamt nur dreimal auf.

Loschütz’ Sprache für das unbestimmt Unheilvolle ist nicht ihrerseits nebulös, sondern sehr genau und knapp. Manchmal geht sie sogar ins Formelle – was dann ebenfalls eine leise Komik erzeugt. An ein Erlebnis mit der wieder aufgetauchten Jugendliebe erinnert sich der Erzähler als an eine große Wortlosigkeit, „begleitet aber von verschiedenen Zärtlichkeitsbeweisen – Halten und Drücken der Hände, umstandslos gewährtes und erwidertes Umarmen, Küssen mit geöffnetem Mund und hin und her schnellender Zunge, Ertasten der verschiedenen Körperteile“.

Ja, die Erinnerung. Sie ist das Grundthema dieser zehn Regennächte. Mit ihr die Melancholie, das Erschrecken über die vergehende Zeit und mit dem Heraufbeschwören dessen, was war, auch das Leiden an dem, was nicht war. Das meiste davon liegt weit zurück und entstammt ganz verschiedenen Lebensphasen des immer einsamen Erzählers, über den wir sonst nicht viel erfahren – das Leben lässt sich nurmehr in Episoden erzählen, der große Zusammenhang fehlt. Und auch das Erinnern, so wehmütig es grundsätzlich ist in der Nacht, wird zart ironisiert. Erinnerungsauslöser sind stets Geräusche, Gerüche oder Anblicke am nächtlichen niedersächsischen Acker, die ihn zum Beispiel nach Manhattan „katapultieren“ – ein ironisches Aufgreifen der Proust’schen Madeleine.

Mit seinem dunklen, surreal gefärbten und komisch grundierten Text schreibt Gert Loschütz die fantastische Linie fort, die er mit seiner märchenhaften Erzählung „Das Pfennig-Mal“ (1986) eröffnet hat. Allein die Bilder: ein mit einem Stechpaddel sich im Leiterwagen fortbewegender Mann oder ein mit goldfarbenen Fahrradschläuchen umwickelter Stuhl als Thron. Solche Bilder und Szenen finden unvergesslichen Eingang ins Lesergedächtnis. Dafür und überhaupt für diesen Roman gebührt dem bislang eher im Verborgenen arbeitenden Gert Loschütz Ehre und Ruhm.

Gert Loschütz: „Dunkle Gesellschaft“. Roman in zehn Regennächten. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2005, 220 Seiten, 19,90 €