DER DORFPLATZ
: Bundestagskantine

Die 12-Uhr-Warteschlange ist feste Regel

Die zentrale Kantine des Deutschen Bundestages ist kein großer Ort des Verharrens. Die nicht Wiedergewählten der letzten Wahlperiode haben ihren Abschieds-Kassler längst gegessen und neuer Alltag durchströmt den Speisesaal, der ganz preußisch Kasino heißt. Wolfgang Thierse steckt sich wie immer die Spitze eines ausgebreiteten Taschentuchs behänd in den Kragen. Schneidige CSU-Praktikanten im Jackett mit Goldknöpfen bestellen Kalbsleber, andere umrunden das Salatbuffet wohlwollend. Fast ist dieser Ort so etwas wie der Dorfplatz der parlamentarischen Ständegesellschaft im Berliner Regierungsviertel. Dorthin verabredet man sich zum Schwatzen und Kontakteknüpfen, kann recht Annehmbares essen und der Hierarchie des Hauses gewahr werden.

Abgeordnete führen ihre Angestellten, die höflich folgen, zum Büroessen aus, ARD-Moderatoren des benachbarten Hauptstadtstudios suchen die Nähe zur Politik, und vom Plenarsaal eilen in Sitzungspausen Saaldiener herbei, in schwarzem Frack mit weißer Fliege. Andere genießen das Bedientwerden an Theken und Kassen sichtbar: das Personal der Pforten und Sicherheitsschleusen, die allen um Einlass Bittenden stets mürrisch begegnen. Die Exzellenzen der Spitzenpolitik hingegen mischen sich seltener unter das hungrige Volk. Dieses Soziotop hat noch weitere feste Regeln wie die pünktliche 12-Uhr-Warteschlange oder akkurate Grüppchenbildung innerhalb der Fraktions- oder Referatszugehörigkeit.

Aber die Attraktion des halligen Glasquaders ist einsetzender Regen. Unter dem Panoramadach beginnt dann eine Tauchfahrt, die fast vergessen macht, dass Dussmann als Betreiberin der Bundestagesküchen eine Firma ist, die bis November jahrelang durch die Lieferung von Assietten ins Ausreisezentrum Motardstraße an der Flüchtlingspolitik des Berliner Senats verdiente. NIELS MÜNZBERG