Wenn alle in der Ipse sind, wer ist dann noch in Kreuzberg?
: Der Caipirinha frisst seine Kinder

Ausgehen und Rumstehen

von Andreas Hartmann

Am Tag vor dem 1. Mai meinte meine Käseverkäuferin auf dem Friedrichshainer Wochenmarkt – eine linksradikale Italienerin –, sie hoffe nur, dass es morgen regne. Lieber Regen als Myfest, fand sie, wegen der Caipirinha-Trinker falle am 1. Mai in Kreuzberg die Revolution sowieso wieder ins Wasser.

Dieser verdammte Kommerz war aber nicht nur Thema rund um das Myfest, auch bei den zig Partys in ganz Kreuzberg ging es natürlich vor allem darum, dank des Soundsystems vor der eigenen Kneipe möglichst viel Bier und Bratwürste zu verkaufen. Aber wenn dann so etwas Schönes dabei herauskommt wie diese anarchische Loveparade-Stimmung, die sich nicht mehr nur auf die Oranienstraße beschränkte, sondern die bereits die Skalitzer Straße für Autos unbefahrbar machte, ist dagegen nichts einzuwenden. Sogar ein Hauch von Fête de la Musique wehte über die Gegend rund ums Schlesische Tor. Nicht nur vor den Pults der Techno-DJs bildeten sich schließlich tanzende Trauben, sondern hier lud auch eine HipHop-Combo zum Open-Air-Konzert, und dort spielte eine Dudeljazzband ihren Dudeljazz, so richtig mit Kontrabass, Saxofon und Querflöte.

Da brauchte man also wirklich nicht mehr weiterzuziehen bis zum Mariannenplatz, wenn bereits direkt an der Warschauer Brücke Festivalstimmung herrschte. Lieber mal zum 1.-Mai-Partyklassiker im Club der Visionäre. Dort musste man in einer langen Schlange stehen, wie sonst nur im Berghain oder vor einem der wenigen geöffneten Geldautomaten am 1. Mai.

Der Laden war voll, übervoll, die Stimmung gut, aber entspannter war es an einem solch schönen Frühlingstag, sich das ganze Treiben lieber auf der Terrasse vom gegenüberliegenden Freischwimmer aus anzusehen und dazu, na ja, einen Caipirinha zu schlürfen. Eigentlich wollten wir jetzt gerne weiter in die Ipse, die ebenfalls zum großen 1.-Mai-Freiluftrave geladen hat. Aber hier ging schon längst nichts mehr. Der Partyladen war restlos überfüllt. Wenn aber jetzt alle hier waren, war da überhaupt noch irgendjemand in Kreuzberg 36 am 1. Mai?

Doch wohin jetzt? Aber das ist ja immer noch das Schöne an Berlin, dass man sich nur ein wenig treiben lassen muss von den Pulssignalen der Stadt, und schon trifft man auf etwas Unerwartetes, das einen ganz und gar glücklich machen kann. Der bestimmt beste Ort, da waren wir uns schnell sicher, muss an diesem 1. Mai ganz einfach dieses Fleckchen Wiese gegenüber dem Club der Visionäre gewesen sein. Fernab vom Trubel stand da einsam dieser Wagen von Robben & Wientjes auf dem Gelände, auf den ein riesiges Soundsystem gelupft wurde, das sich auch in einem mittelgroßen Club gut gemacht hätte. Vinyl-DJs pumpten über die Anlage astrein oldschooligen Detroit-Techno, dazu breitete sich eine selige, vielleicht sogar Ecstasy-getriggerte Afterhour-Stimmung aus und ein paar Touristen machten im Vorbeigehen schnell ein paar Fotos von dem Come-together. Hier wollte man nichts, außer zu wirklich tollem Techno einfach nur eine gute Zeit zu haben. Und das Beste: Nirgendwo wollte jemand einem ein Erfrischungsgetränk oder sonst was verkaufen. Die Leute reichten sich höchstens gegenseitig die Mineralwasserflaschen weiter, das, was jemand dabeihatte, gehörte allen. Vielleicht war es richtig politisch, ausgerechnet hier am 1. Mai ein wenig zu tanzen.