Die Lebensgrenzen

OPERNPREMIERE Ein Monument religiöser Transzendenz in der Deutschen Oper: Der österreichische Komponist Georg Friedrich Haas hat die Erzählung „Morgen und Abend“ des Norwegers Jon Fosse in Musik eingepackt

Christoph Pohl als Johannes und Helena Rasker als seine Frau Erna Foto: Marcus Lieberenz

von Niklaus Hablützel

So viel Lärm war noch nie. Zwei Schlagzeuger stehen auf ihren erhöhten Podesten links und rechts am Bühnenportal und hauen mit maximaler Körperkraft auf die große Trommel ein. So steht vom ersten Augenblick an fest, dass es hier um das Ganze geht. Nicht um ein Drama, nicht um Liebe und Macht oder Krieg und Frieden, um all das also, worum es in der großen Oper gewöhnlich geht – wenn es denn eine wirklich große Oper ist. Hier geht es um noch mehr, um das Leben nämlich vor der Geburt und nach dem Tod.

Jon Fosses schmale Erzählung „Morgen und Abend“ von 2000 ist von der Literaturkritik überwiegend hoch gelobt worden, die NZZ allerdings befand, es handle sich um ein „sentimentales Trostbüchlein“. Das ist es wohl auch, denn Fosse ist ein Autor mit starkem Bedürfnis nach Religion. Er ist inzwischen in die katholische Kirche eingetreten und schreibt gläubig über Dinge, für die wir in dieser Welt keine Erfahrung haben können.

Nach dem Trommeldonner wachsen aus dem Orchester Klangwände empor, zuerst leise flimmernd, durchscheinend. Sie verwandeln sich ständig, werden lauter, weil die Instrumente wechseln und die komplexen Intervalle sich allmählich verschieben bis hin zu reinem Wohlklang und wieder zurück zu undurchdringlichen Dissonanzen. Haas, 1953 geboren, hat eine sehr eigene musikalische Sprache entwickelt, die aus Obertonreihen, Viertel- und Sechsteltönen faszinierend schwebende Klangflächen erzeugt. Sie scheinen keinen Ursprung und kein Ziel zu haben.

In dieses Klanggewebe hinein spricht Klaus Maria Brandauer die ersten Worte. Er sitzt allein auf einer Bank, im Nebenzimmer wird ein Kind geboren. Das sehen wir nicht, aber Brandauer versucht, sich vorzustellen, was der Fötus erlebt, der jetzt entlassen wird in die Welt. Niemand kann sich daran mit Bewusstsein erinnern, auch Brandauer nicht, spricht aber darüber. Es ist furchtbar laut, kalt, es gibt Finger, Dinge sind da und wieder weg. Und ja: Es gibt Gott. „Sehr weit weg, aber auch ganz nah.“ Brandauer gibt seinem Kind den Namen „Johannes“, die Hebamme kommt und führt ihn hinaus. Danach kehrt dieser Johannes zurück. Auch er ist jetzt ein alter Mann wie sein Vater Olai, den Brandauer mit großem Ernst, aber so frei von Pathos gespielt hat, das man ihm den Bericht aus dem Jenseits vor der Geburt durchgehen lässt. Johannes singt.

Der Bariton Christoph Pohl leiht ihm seine schöne Stimme. Trotzdem kann er kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Erfindung von Melodien nicht zu den Stärken von Georg Friedrich Haas gehört. Er übernimmt Fosses archaische Prosa und weist den Silben Tonhöhen zu, die seinen Akkordgeflechten neue Elemente hinzufügen. Eigene Ausdruckskraft haben sie kaum. Aber immerhin gelingt es ihm so, die Erzählung in eine berauschend schöne Klangwelt einzupacken, in der sie ihre religiöse Transzendenz hemmungslos ausspielen kann.

Johannes wacht auf, es ist ein grauer Tag. Seine Frau Erna ist schon lange tot, sein bester Freund Peter auch. Nur Signe, die Tochter, kommt noch vorbei. Auch jetzt, aber nicht nur sie. Erna legt sich zu ihm – und geht wieder. Peter tritt auf. Seine Haare sind zu lang, Johannes möchte sie ihm schneiden, wie er das früher getan hat. Der strahlende Tenor von Will Hartmann weist ihn ab. Dafür ist er nicht gekommen. Er muss Johannes hinüberführen in die andere Welt. Dort wird es alles geben, was sein Freund geliebt hat.

Schwebende Klangflächen scheinen keinen Ursprung und kein Ziel zu haben

Es könnte große Oper sein, ist es aber nicht. Das liegt an Graham Vick, dem britischen Regisseur. Er nimmt Fosses neonaturalistisches Personal beim Wort. Einfache Fischer in einem norwegischen Dorf am Meer sind es, die bei ihm die Grenzen des Lebens überschreiten. Der Bühnen- und Kostümbildner Richard Hudson steckt sie in derbe Gewänder und stellt ihnen ein Ruderboot zur Seite und eine einsame Holztür, die überladen mit Bedeutung die metaphysischen Räume verbindet. Alles ist in ein mehlig weißliches Grau getaucht.

Das ist schrecklich bieder und steckt Sängerinnen und Sänger in ein viel zu enges Korsett. Sie sollen nun aus Fosses kargen Worten Personen erzeugen, die sie nicht sind. Vick hätte Haas zuhören sollen. Es sind nur Stimmen im Akkord eines aus aller Zeit und jedem denkbaren Alltag gefallenen Diskurses über das Jenseits.

Haas lässt sie hören, am schönsten vielleicht mit Sarah Wegener. Sie ist die Stimme der Tochter Signe, die ihren toten Vater findet. Er greift nach ihr und sie erstarrt. Etwas sehr Kaltes habe sie gefühlt, aber es sei „nicht böse“. So singt sie in einer mikrotonalen Linie, die dann doch sehr moderne Oper ist. Nicht böse, aber verstörend religiös und nur groß, weil sie so extrem allen Konventionen der großen Oper widerspricht. Großer Applaus in der Premiere.

Nächste Vorstellungen: 11., 22. Mai, 1. Juni 2016