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Keine Kunst für Snobs

LEBENSWERK Um das politische Anliegen ihrer Kunst weit zu verbreiten, setzte Alice Lex-Nerlinger schon serielle Reproduktionstechniken ein. Das Verborgene Museum erinnert jetzt an die fast vergessene Künstlerin

Alice Lex-Nerlinger, „Die Näherin“, ca. 1928, Fotomontage, Nachlass, Akademie der Künste, Berlin Foto: Ilona Ripke/Verborgenes Museum

von Laura Aha

„Es ist für alle, die nicht bewusst die zwanziger Jahre miterlebt haben, schwer, sich vorzustellen, welch eine große Rolle die revolutionäre Fotomontage als künstlerisches Ausdrucksmittel (…) gespielt hat“, schrieb die Künstlerin Alice Lex-Nerlinger im Rückblick auf ihre künstlerischen Anfangsjahre in der Weimarer Republik. Kryptische Abstraktion und ein elitäres Denken, das Kunst den reichen „Snobs“ vorbehielt, waren ihr ein Leben lang zuwider, stattdessen verfolgte sie eine klare Bildsprache, die auch von Arbeitern, Bauern und Soldaten verstanden werden sollte. Um ihre politischen Anliegen durch Kunst möglichst weit zu verbreiten, bediente sie sich serieller Reproduktionstechniken – lange bevor Andy Warhol diese in der Kunstgeschichtsschreibung für sich beanspruchte.

Dass ebendieser Kunstgeschichtsschreibung meist eine subjektive, respektive männliche Perspektive zugrunde liegt, die den Fokus vornehmlich auf die heldengeschichtliche Aneinanderreihung männlicher Künstlerbiografien lenkt, darauf möchte das Berliner Verborgene Museum aufmerksam machen. Das 1986 als gemeinnütziger Verein gegründete Museum würdigt Geschichte und Werk von Künstlerinnen, die aus unterschiedlichsten Gründen in Vergessenheit geraten sind. So wie Alice Lex-Nerlinger. In den Zwanzigerjahren gehörte sie zur Fotoavantgarde, war 1929 sogar in der legendären Stuttgarter Schau „Film und Foto“ vertreten. Trotzdem geriet sie in Vergessenheit, bis sich die US-Kunsthistorikerin Rachel Epp Buller mit ihrem Nachlass in der Berliner Akademie der Künste befasste. Ihr ist jetzt die erste retrospektive Einzelausstellung des Werks von Alice Lex-Nerlinger hier in Berlin zu verdanken.

1893 als jüngstes Kind des Lampenfabrikanten Heinrich Pfeffer in Berlin-Kreuzberg geboren, bleibt ihr als Frau der Zugang zur Kunstakademie verwehrt. Die talentierte junge Frau beginnt eine Ausbildung zur Malerin und Grafikerin an der Unterrichtsanstalt des Berliner Kunstgewerbemuseums und erlernt durch den Zeichner Emil Orlik grafische Techniken, Zeichnen und Lithografieren. Mit Bubikopf und frei im Denken genießt Alice Pfeffer ihr selbstbestimmtes Leben als Kunststudentin. Doch die unbeschwerte Zeit findet ein jähes Ende. Der Erste Weltkrieg markiert für die heranwachsende Künstlergeneration eine Zäsur.

Teile der Berliner Kunstschule werden zum Lazarett umfunktioniert, täglich sehen sich die Studierenden mit Soldaten, Verletzten und Kriegsversehrten konfrontiert. Die grausamen Eindrücke spiegeln sich in der neuen Bildsprache der Dadaisten und Konstruktivisten wider. Alice Nerlinger, seit 1918 mit dem Künstler Oskar Nerlinger verheiratet, bewegt sich in avantgardistischen Künstlerkreisen um Herwarth Waldens „Sturm-Galerie“ und Arthur Segal. Sie wählt sich den Künstlernamen Lex und gründet 1926 mit anderen Künstlern die Gruppe „Die Abstrakten“. 1927 tritt sie der KPD bei. Kunst ist für Lex ein politischer Kampf. „Ich fotografierte, experimentierte, machte Fotogramme und Spritzbilder (…) Alle meine Arbeiten wurden getragen von der Idee, daran mitzuwirken, das Leben der Menschen zu verbessern“, schrieb sie.

Ihre klare Bildsprache verstanden auch Arbeiter, Bauern und Soldaten

Das Verborgenen Museum zeigt die ganze Bandbreite ihrer künstlerischen Entwicklung. Silbergelatineabzüge von Eierrationen und toten Hühner stehen neben frühen abstrakten Malereien. Bunte Tiercollagen kon­trastieren mit der schwarz-weißen Fotomontage einer Näherin, deren jugendlich-weiche Gesichtszüge mit der industriellen Härte der Nähmaschine verschmelzen.

Lex spielt mit Widersprüchen. Die Fotogramm-Montage „Arm und Reich“ aus dem Jahr 1930 stellt gesellschaftliche Gruppen in serieller Reihung dialektisch gegenüber. Links der Mann im Café, rechts die Kriegskrüppel, hier die pelzbehangene Frau samt Sohnemann, daneben die schwangere Zeitungsverkäuferin, in deren schweren Handwagen zwei weitere Kinder buchstäblich durchzuschleppen sind.

Zentrales Werk der Ausstellung ist das Spritzbild „Paragraph 218“ – der Paragraf, der Schwangerschaftsabbruch unter Strafe stellt und bis heute in abgeschwächter Form im Grundgesetz verankert ist. Eine gesichtslose Schwangere im Hintergrund, im Vordergrund wirft sich eine Gruppe Frauen mit aller Kraft gegen ein Kreuz mit der Inschrift „§ 218“. Frauen stellt Lex nicht als Opfer dar, sondern für den solidarischen Kampf bereit. Als frühe Feministin mahnt sie junge Frauen zum kritischen Aufbegehren gegen gesellschaftliche Benachteiligung und mediale Propaganda. Lex’ Lebenswerk bleibt auf vielen Ebenen relevant und hat auch hundert Jahre später nichts an Aktualität eingebüßt.

Bis 7. August im Verborgenen Museum, Schlüterstr. 70, Do. & Fr. 15–19 ; Sa. & So. 12–16 Uhr

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