DIE MEDIZINER VERDIENEN NICHT ZU WENIG, SONDERN ZU UNTERSCHIEDLICH
: Armer Arzt vs. reicher Arzt

„Die besten Ärzte verlassen das Land“, drohen Ärztefunktionäre und rufen zum Streik. In der Tat wird vielen Assistenz- und Oberärzten in Kliniken eine Sechzigstundenwoche abverlangt, zu oft stressigen Arbeitszeiten und unter schwierigen Arbeitsbedingungen. Doch das verallgemeinernde Jammern über die finanzielle Situation der Ärzte ist unangebracht und noch immer von der Illusion geprägt, dass die Gesellschaft künftig deutlich mehr Geld für die Ärzteschaft ausgeben werde.

Trotz mancher leer stehenden Landarztpraxis gibt es eher zu viele Ärzte. Die extreme Streubreite ihrer Einkommen ist mit dem Leistungsprinzip nicht begründbar: Zahnärztliche Existenzgründer erwirtschaften durchschnittlich einen jährlichen Überschuss von 60.000 Euro. Davon können andere Akademiker, die um unbezahlte Praktika betteln, nur träumen.

Auch in Kliniken verdienen manche Mediziner sehr viel, etwa indem sie mit außerärztlichen Tätigkeiten ihr Einkommen aufbessern. Viele gehören als Ärzte zwar nicht zu den Besten, reüssieren als kaufmännische Direktoren oder Leiter von Kliniken finanziell aber dennoch, ohne hierfür qualifiziert zu sein. Medizinische Koryphäen werden zudem von der Pharmaindustrie protegiert.

Bei anderen übersteigen die Einnahmen als Gutachter für Gerichtsprozesse, für die gesetzliche Krankenversicherung oder für private Versicherungen das Professoren-Salär um ein Vielfaches.

Die teils erheblichen Einkommensunterschiede können auch durch eine Umverteilung innerhalb der Ärzteschaft beseitigt werden. Doch bei den niedergelassenen Ärzten verhindern facharztspezifische Honorartöpfe eine gerechte Verteilung. Die Geringverdiener unter den Medizinern, ärztliche Psychotherapeuten oder Kinderärzte, haben das Nachsehen. Und zu einer differenzierten Betrachtung der ärztlichen Einkommen sind die Ärztefunktionäre meist nicht in der Lage, weil sie vom Wohlwollen ihre bestverdienenden Standeskollegen abhängig sind. Schade. Berechtigter Ärzteprotest verspielt so einen Teil seiner Glaubwürdigkeit.

HARRY KUNZ