Der US-Präsident in Hannover

Da geht’s lang: Ausgerechnet ein Amerikaner zeigt den zerstrittenen Europäern, wie wichtig ihre Union ist

Eine Wir-gegen-sie-Mentalität darf keine Chance haben

Im Wortlaut Die Grundsatzrede von US-Präsident Barack Obama auf der Hannover Messe in Auszügen. Obama: „Wir haben das Glück, in der friedlichsten, wohlhabendsten und fortschrittlichsten Epoche der Menschheitsgeschichte zu leben“

Foto: Ein Selfie mit Präsident: Obama und seine Fans in Hannover Foto: Carolyn Kaster/ap

[...] „Wir glauben an die Gleichheit und die Würde jedes einzelnen Menschen. In Amerika hat heute jeder die Freiheit zu heiraten, wen er will. Wir glauben an Gerechtigkeit, daran, dass kein Kind je an einem Mückenstich sterben sollte, daran, dass niemand vor Hunger Schmerzen leiden sollte, daran, dass wir zusammen unseren Planeten und die verwundbarsten Völker vor den schlimmsten Folgen des Klimawandels bewahren können. [...]

Wir haben das Glück, in der friedlichsten, wohlhabendsten und fortschrittlichsten Epoche der Menschheitsgeschichte zu leben. [...] Auf der ganzen Welt sind wir heute toleranter – mit mehr Chancen für Frauen, für Schwule und Lesben, und wir weisen Bigotterie und Vorurteile zurück. [...] Wenn Sie es sich aussuchen könnten, wann sie geboren werden wollen, und Sie wüssten nicht vorher, mit welcher Nationalität, welchem Geschlecht oder welchem wirtschaftlichen Status Sie geboren würden – Sie würden das Heute wählen, was nicht heißen soll, dass es nicht noch enormes Leid und Tragödien gibt und uns viel zu tun bleibt. [...]

In all unseren Ländern, auch in den USA, versuchen noch immer viele Arbeiter und Familien, sich von der schlimmsten Wirtschaftskrise seit Generationen zu erholen. Und das Trauma von Millionen, die ihre Jobs und ihre Wohnungen und ihr Erspartes verloren haben, ist noch immer zu spüren. Gleichzeitig gibt es seit Jahrzehnten diese grundlegenden Trends von Globalisierung und Automatisierung, die in einigen Fällen die Löhne gedrückt haben und die Position der Arbeiter in Lohnverhandlungen geschwächt haben. Löhne und Gehälter sind in vielen entwickelten Länder stehen geblieben, während andere Kosten gestiegen sind. Ungleichheit ist größer geworden. Und für viele Leute ist das Weiterleben schwerer denn je.

Das ist so in Europa, wir sehen einige dieser Trends in den USA und überall in den entwickelten Ländern. Und diese Sorgen und Nöte sind real. Sie sind legitim. Sie dürfen nicht ignoriert werden, und sie verlangen von jenen an der Macht nach Lösungen.

Wenn wir diese Probleme nicht lösen, entsteht ein Vakuum, und dann sehen wir jene, die diese Ängste und Frustrationen destruktiv ausnutzen. Jene Politik, die zu überwinden das europäische Projekt einmal gegründet wurde, ist wieder da: Eine Wir-gegen-sie-Mentalität, die versucht, unsere Probleme dem Fremden anzulasten, jemandem, der nicht so aussieht wie wir und nicht so betet wie wir – ob nun Migranten oder Muslime oder wer sonst anders scheint als wir. [...]

Wir stehen an einem entscheidenden Moment. [...] Wenn ein vereinigtes, friedliches, liberales, pluralistisches und marktwirtschaftliches Europa an sich selbst zweifelt, dann stellt es den in mehreren Jahrzehnten erreichten Fortschritt infrage. [...] Stattdessen machen wir jene stark, die argumentieren, dass Demokratie nicht funktionieren kann, dass Intoleranz und völkisches Denken und eine Organisation entlang ethnischer Trennlinien und Autoritarismus und Einschränkungen der Pressefreiheit angesichts der heutigen Herausforderungen das Gebot der Stunde seien. [...]

Ja, die europäische Einheit kann durch ihren Zwang zum Kompromiss frustrieren. [...] Ich verstehe, wie einfach es sein muss, auf Brüssel zu zeigen und sich zu beklagen. Aber denken Sie daran, dass jedes einzelne Mitglied Ihrer Union eine Demokratie ist. Das ist kein Zufall. Denken Sie daran, dass kein EU-Land die Waffen gegen ein anderes gerichtet hat. Das ist kein Zufall. Denken Sie daran, dass die Nato stärker ist denn je. [...]

Europäer, wie Amerikaner, schätzen ihre Privatsphäre. Und viele sind skeptisch gegenüber Regierungen, die Informationen sammeln und teilen – aus gutem Grund. Die Skepsis ist gesund. [...] Aber ich will auch den jungen Leuten sagen, die ihre Privatsphäre wollen und sehr viel Zeit am Handy verbringen: Die Bedrohung durch Terrorismus ist real.

Wenn ein vereinigtes, friedliches, liberales, pluralistisches und marktwirtschaftliches Europa an sich selbst zweifelt, dann stellt es den in Jahrzehnten erreichten Fortschritt infrage

Viele Jahre dachte man, dass sich Länder zwischen Wirtschaftswachstum und sozialem Einschluss entscheiden müssten. Heute kennen wir die Wahrheit: Wenn Wohlstand immer mehr auf einige wenige an der Spitze konzentriert ist, dann bedeutet das nicht nur eine moralische Herausforderung, sondern es senkt auch das Wachstumspotenzial eines Landes. Wir brauchen breites Wachstum, von dem alle etwas haben. Und wir brauchen eine Steuerpolitik im Sinne der arbeitenden Familien.

Ich unterstütze die europäische Einheit und den Freihandel und spüre gleichzeitig eine tiefe Verantwortung dafür, starke Schutzmechanismen für Arbeiter zu garantieren – ein vernünftiges Einkommen, das Recht, sich zu organisieren, und ein starkes soziales Sicherheitsnetz und eine Pflicht zu Verbraucher- und Umweltschutz. [...] Wir müssen viele unserer Volkswirtschaften reformieren. Die Antwort kann nicht darin bestehen, uns voneinander abzuschotten.

Übersetzung: Bernd Pickert