Paarungen im Kornfeld

Oper An der Staatsoper haben René Jacobs und Ingo Kerkhof „Amor vien dal destino“ von Agostino Steffani aus den 1690ern zu neuem Leben erweckt

Vergessen ist der Mann keineswegs. Donna Leon hat aus seinem Leben einen Kriminalroman gemacht und musste nicht allzu viel hinzuerfinden. Agostino Steffani, 1654 in Venetien geboren, war Sänger, Klaviervirtuose, Bischof, Diplomat und Geheimagent des Papstes. Zu Hause war er in ganz Europa, in Paris, Rom, München, Brüssel, erstaunlich lange Zeit aber auch in Hannover. Dort versuchte er den Protestanten Ernst August zu bekehren, sehr viel erfolgreicher aber waren seine Opern für das neue Theater im Leineschloss des Herzogs.

Eine davon hieß „Turno“ und griff Episoden aus Vergils „Ae­neis“ auf. Sie ist verloren, aber 1709 kam eine überarbeitete und ergänzte Version in Düsseldorf zur Uraufführung, die schon im Titel sagt, worum es dem komponierenden Politiker ging: „Amor vien dal destino“. Steffani kannte seine Zeit wie kaum ein anderer; der kommende Aufstand des bürgerlichen Subjekts war schon zu spüren, das ein Recht auf seine privaten Gefühle gegen alle Standesgrenzen einzuklagen beginnt.

Steffani schleudert der neuen Innerlichkeit ein donnerndes „Nein“ entgegen, bewaffnet mit dem Gründungsmythos des ewigen Rom, ausgeführt mit der Summe der europäischen Musik seiner Zeit, die er meisterhaft beherrschte. Gerade die Liebe ist niemals privat, so lautet die Botschaft, gerade sie ist Schicksal und von Gott verordnet.

So fängt das Stück auch in Ingo Kerkhofs Regie an. Die Götter streiten um das Schicksal des Troja-Flüchtlings Aeneas. Jupiter spricht ein Machtwort. Er soll in Latium landen, dort die Königstochter Lavinia heiraten und ein neues Volk gründen. Ende der himmlischen Diskussion, doch auf ebener Erde wird der Fall kompliziert, enorm kompliziert sogar, denn Steffani war auch ein Meister der geistreichen Unterhaltung seiner zahllosen Dienstherren.

Der Krieger ist ein Sopran

Kerkhof übersetzt die Verwirrungen von Kriegsherren und Liebespaaren in das wunderschöne Bild eines Kornfeldes. Ein pantomimischer Amor pflanzt überall ein paar Ährenhalme, nach der Pause ist die ganze Bühne überwachsen. Extrem barock mit Allongeperücken, rot geschminkten Lippen, in Roben und Westen irren die Personen mit übertrieben gespreizten Gesten durch die Halme. So außer Haus auf dem Land können sie am Besten erzählen, was Steffani über die wahre Liebe zu sagen hat. Nichts ist von heute.

Das hohe Paar hat sich schon im Traum gefunden, muss aber erst lernen, dass es sich auch in der Wirklichkeit liebt. Aeneas’ Rivale Turno, dem die Königstochter versprochen war, soll mit ihrer Schwester zufrieden sein, die ihn schon immer geliebt hat. Die Diener haben den fröhlichen Sex, den alle haben. Den kann man beichten, mehr ist nicht dran.

Das anatomische Geschlecht spielte im Theater jener Zeit sowieso keine Rolle: Die Königstochter ist ein tiefer Sopran, die Dienerin ein Tenor, der Krieger Turno ein hoher Sopran. René Jacobs zaubert aus dieser hermaphroditischen Welt gestelzter Posen und Diskurse ein Theater, das noch heute volle vier Stunden überaus unterhaltsam bleibt. Kerkof hat ihm den Raum gegeben, den er braucht für seine wissenschaftliche Sorgfalt und Erfahrung mit der Musik dieser Zeit.

Ein Genie im modernen Sinne war Steffani sicher nicht. Sein Problem war, dass er alles fast zu gut konnte. Seine Rezitative sind lebendig, hinter den Koloraturen und Verzierungen seiner Arien stecken Melodien von Gewicht und Kraft. Manchmal gelingen ihm sogar Lieder von zeitloser Schönheit. Aber auch wenn es oft bei der Konvention bleibt, singen und ­spielen die Akademie für Alte Musik und ein wundervolles Gesangsensemble von Experten eine große Oper, die ganz neu klingt. Niklaus Hablützel

Nächste Aufführungen: 27. 4., 30. 4., 4. 5., 7. 5., 19 Uhr