Ein Leben lang zerrissen

Vaterschaftsklage Jeder Mensch sollte erfahren dürfen, wer seine Eltern sind – auch wenn gute Gründe dagegen sprechen, dieses Geheimnis zu lüften

Simone Schmollack

Foto: Gudrun Haggenmüller

ist taz-Redakteurin, Vizeleiterin des Inlandsressorts und zuständig für soziale Themen: Geschlechter- und Fami­lien­politik, Pflege, Sozialpolitik. Sie hat viele Bücher geschrieben, darunter „Kuckuckskinder. Kuckuckseltern“ und „Ich wollte nie so werden wie meine Mutter“.

von Simone Schmollack

Sie wollte wohl keinen verspäteten Unterhalt, und es ging ihr offensichtlich auch nicht ums Erbe. Trotzdem wollte eine heute 66-jährige Frau aus Nordrhein-Westfalen wissen, wer ihr biologischer Vater ist. Sie hatte einen ganz bestimmten Mann im Blick, von dem auch ihre Mutter behauptete, er sei ihr Erzeuger.

Aber die Frau wird nie erfahren, ob ihre Vermutung stimmt. Zumindest nicht auf dem Rechtsweg, ebenso wenig per Gentest. Denn das Bundesverfassungsgericht, über das sie eine Genanalyse einklagen wollte, hat jetzt bestimmt, dass eine Vaterschaftsüberprüfung in diesem besonderen Fall nicht angebracht sei. Es gelte, die Persönlichkeitsrechte des mittlerweile 88-jährigen Mannes zu wahren, der einen Vaterschaftstest abgelehnt hatte.

Man kann den Mann verstehen. Wieso sollte er sich in seinem hohen Alter noch einem solchen Stress aussetzen? Was, wenn der Test positiv ist? Was fängt er mit einer neuen Tochter an, die selbst schon Rentnerin ist? Eltern und Kinder, die sich nach jahrelanger Unwissenheit später schluchzend vor Freude über die erweiterte Verwandtschaft in die Arme fallen, sind Hollywood-Stoff, mit der Realität hat das in der Regel nur wenig gemein.

Genauso gut kann man sich die herbe Enttäuschung der Frau vorstellen. Sie wollte doch nichts weiter als Klarheit, im besten Fall die Wahrheit. Jede und jeder will doch wissen, wer die leibliche Mutter und wer der biologische Vater ist. Jeder Mensch hat das Recht zu erfahren, woher er stammt.

Suche nach Ähnlichkeiten

Die Palette der Gründe, warum manche Frauen und Männer das nicht wissen, ist bunt: Sie wurden zur Adoption freigegeben, vielleicht in einer Babyklappe abgelegt. Oder sie sind sogenannte Kuckuckskinder und haben einen anderen leiblichen Vater als den, den sie kennen. Andere leben in einer Pflegefamilie, weil die „richtigen“ Eltern nicht in der Lage waren, Kinder großzuziehen.

Begeben sich ältere Menschen auf die Suche nach denjenigen, die ihnen ihre Gene mitgegeben haben – so wie die Klägerin –, geht es ihnen in der Regel nicht um finanzielle Ansprüche oder um ein herbeifantasiertes un­bekanntes Erbe. Sie wollen meist schlicht wissen, wie der vermeintliche Vater aussieht. Wie die Mutter riecht. Ob der Vater einen Bart trägt und die Mutter wild mit den Händen gestikuliert. Welchen Beruf die Mutter hat. Ob der Vater eine Brille trägt. Ein ganz normales Bedürfnis. Ganz normale Fragen. Um Ähnlichkeiten zu entdecken, um zu verstehen, warum man so tickt, wie man tickt.

Menschen, denen diese Erkenntnis verwehrt bleibt, leiden ihr Leben lang unter einer Unruhe und einer Zerrissenheit, die sie selbst nur schwer beschreiben können. Sie fühlen sich getrieben und haben häufig wenig Vertrauen in andere Menschen.

Das haben Adoptionsforscherinnen und -forscher hinlänglich bewiesen. So hat die Psychiaterin und Sozialarbeiterin Christine Swientek, die lange in der Adoptionsvermittlung tätig war, herausgefunden, dass weggegebene Kinder nur schwer eine eigene Identität entwickeln. Dass sie sich verlassen fühlen und bindungslos. Dass sie häufig unsicher sind, depressiv und teilweise von Suizidgedanken geleitet.

Swientek und ihre Thesen sind nicht unumstritten. Unter anderem, weil sich die Forscherin gegen Baby­klappen ausspricht, die sie für ein Angebot hält, das vor allem Nachfrage generiere.

Geheimnisse strengen an

Aber nicht alle Kinder und Erwachsene, die ihre leiblichen Eltern nicht kennen, sind „Findelkinder“, so wie Swientek die Säuglinge in den Babyklappen bezeichnet.

Nicht umsonst ist daher das deutsche Recht bei der Frage der eigenen Herkunft mehrfach nachgebessert worden. Kinder können heute in jedem Fall klären lassen, wer ihr rechtlicher Vater, wer die leibliche Mutter ist – verbunden mit allen Rechten und Pflichten. Es gibt zudem die Möglichkeit der Abstammungsuntersuchung, die keinerlei Auswirkung auf eine rechtliche Vaterschaft hat.

Solche Klärungen sind heute ohne Vaterschaftstest nicht mehr vorstellbar, sogenannte Kuckuckseltern und Kuckuckskinder fliegen sowieso früher oder später auf.

Wenn nicht durch ein Gericht und einen Gentest, dann durch Geburtsurkunden, die irgendwann auftauchen. Durch Briefe, die gefunden werden, wenn Mutter oder Vater sterben. Durch Klatsch und Tratsch in der Nachbarschaft.

Man will Ähnlichkeiten entdecken, verstehen, warum man so tickt, wie man tickt

Kuckuckskinder sollen bestgehütete Geheimnisse sein, werden verschwiegen, weil sie peinlich sind. Aber so eine Kuckuckskindgeschichte ist vor allem eines: anstrengend für alle jene, die dieses Geheimnis hüten (müssen). Sie konstruieren Lügen und verstricken sich darin. Sie weichen unschuldigen Fragen aus und errichten neue Scheinwahrheiten. Die Geheimnisträgerinnen und -träger sind gefangen in ihrer eigenen (Un-)Wahrheit.

Trotzdem kann es zahlreiche Gründe geben, dem Kind die wahre Elternschaft zu verschweigen. Einerseits um das Kind zu schützen. So zumindest stellen es „überführte“ Eltern gern dar. Andererseits aber auch, um selbst mit heiler Haut davonzukommen und keine unangenehmen Fragen beantworten zu müssen: Was ist damals passiert? Ein Fehltritt mit unübersehbaren Folgen? Eine Affäre, die anders endete, als sie anfing?

Ein sachliches Urteil

Das Bundesverfassungsgericht hat im vorliegenden Fall sachlich geurteilt, es hat persönliche Befindlichkeiten einer Einzelperson gegen das allgemeine Grundgesetz abgewogen. Und unter anderem die Familie des vermeintlichen Vaters ins Spiel gebracht. Könnte die beschädigt werden, wenn jetzt herauskäme, dass es da noch ein weiteres, ein fremdes Kind gibt?

Ja, natürlich würde diese Familie belastet. Aber das ist sie sowieso. Eine Familiengeheimnis, wie auch immer es aussieht, legt sich wie ein dunkler Schatten auf Eltern, Kinder und Enkelkinder. In allen betroffenen Familien. Auch wenn sie davon offiziell gar nichts wissen.

Daran kann auch kein Gericht etwas ändern. Dagegen hilft ausschließlich die Wahrheit – und nichts als die Wahrheit.