Utopie Die Nationalstaaten müssen abtreten – Europa wird zur Republik mit starken Regionen. Ulrike Guérot skizziert mit kühnen Strichen die Rettung der EU: Eine Revolution, nicht weniger
Die EU hat kein Endziel. Sie taugt nicht als große Erzählung oder Utopie und sorgt für rationalen Interessensausgleich. Diese Diagnose stammt von 1996 aus der Feder des Ex-Maoisten und grünen Politikexperten Joscha Schmierer. Genau so sahen viele lange die EU.
Wenn man der EU-Kennerin Ulrike Guérot glaubt, ist das vorbei. Die EU ist als Elitenprojekt ohne Ziel nicht bloß in einer Krise. Sie funktioniert nicht mehr. „Die EU hat viele Verlierer produziert in den vergangenen Jahren und nur wenige, aber große Gewinner“, so der Befund. Die EU integriert nicht mehr. Reich und Arm fallen weiter auseinander. Deutschlands Exportindustrie profitiert noch vom Euro. Aber ringsherum fällt die Kosten-Nutzen-Rechnung skeptischer aus. Das Versprechen aus Brüssel, Wohlstand für alle für schaffen, ist geplatzt.
Zudem ist die EU politisch falsch konstruiert. Der Trias EU-Kommission, Parlament und Rat spricht dem Prinzip der Gewaltenteilung Hohn. Faktisch regiert, wie in einer Diktatur, die Exekutive, die Kommission. Die EU ist ein Markt ohne Staat, eine Währung ohne Demokratie, ein Gebilde ohne Erzählung. Sie ist, so die Analyse, „legal, aber nicht demokratisch“. Und steht vor dem Kollaps.
Man begegnet solch leicht atemlosen, alarmistisch angehauchten Prognosen mit gewisser Skepsis. Auch der Nationalstaat hat ja schon eine Reihe schwungvoller Beerdigungsreden überstanden. Warum soll es mit der EU anders sein? Doch Guérot macht mit mitunter sarkastischem Witz plausibel, dass es mit der Krisenresistenz der EU irgendwann passé sein kann.
Wolfgang Schäuble hat kürzlich in Berlin den Rechtspopulismus ein Phänomen „schlecht gelaunter Wohlstandsbürger“ genannt. Die EU-Gegnerschaft der Rechten ist demnach nur ein unschönes Störgeräusch, das die letztlich unaufhaltsamen Erfolgsgeschichte der EU begleitet. Das ist zu gemütlich und selbstgefällig. Guérot markiert dazu den interessanten Kontrapunkt. Marine Le Pen und Viktor Orban sind in ihrer Lesart nicht Kern des Problems, sondern nur das hässliche Symtom. „Nicht der Populismus bedroht die EU, die EU produziert den europäischen Populismus“, so die Analyse. Denn die EU ähnelt in vielem dem Bild, das die Rechtspopulisten von ihr zeichnen: undemokratisch, bürgerfern, einseitig auf die Interessen der Mächtigen fixiert.
Wenn das zutrifft, dann werden wohlwollenden Pro-Europa-Bekenntnisse nicht viel nutzen. Denn dann ist der Rechtspopulismus Vorbote einer Entscheidung, die ansteht: Entweder die EU zerfällt wieder in Nationalstaaten – oder sie wird zu eine Republik.
In einer luziden ideengeschichtlichen Tour d‘Horizont, die von Aristoteles über Hobbes bis 1789 reicht, entfaltet Guérot die Schönheit der Republik, die allein das Gefäß für Europa sein kann. Plebiszite betrachtet die Autorin mit erfreulicher Skepsis. Kurzum: Nötig ist eine institutionelle Revolution. In der Republik Europa, die die Nationalstaaten ablöst, wird es eine Regierung geben, die – one man one vote – demokratisch legitimiert ist und die die Bürgerschaft bei Missfallen abwählen kann.
Ist das nur ein Traum? Die theoretischen Grundierung dieser Republik liest sich zauberhaft konkret – die konkrete Ausformung leider theoretisch und schütter. In der Republik Europa soll es nach US-Vorbild ein Zwei-Kammer-System geben, ein Parlament und eine Art Bundesrat, der die Regionen vertritt. Wie das Föderale in einer multiethnischen, multisprachlichen Republik mit 500-Millionen BürgerInnen zur Geltung kommen kann, wäre einen zweiten Gedanken wert. Aber da strebt die Autorin mit Sieben-Meilen-Stiefeln schon gen Weltbürgertum.
Anyway. Dieser Essay ist geistreich und provokant. Und er bohrt exakt am richtigen Ort.
Stefan Reinecke
Ulrike Guérot: „Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie. Dietz Verlag, Bonn 2016, 304 Seiten, 18 Euro
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