wie viel muss jemand leisten, um siebzehn Millionen Euro in einem Jahr zu verdienen? Kann das überhaupt in einem Verhältnis stehen?
: Mit der gewissen Rücksichtslosigkeit

Foto: Lou Probsthayn

Fremd und befremdlich

KATRIN SEDDIG

Manchmal, jetzt im Frühjahr, gehe ich an einem Kanal entlang und sehe mir die Stadthäuser an, die auf der anderen Straßenseite stehen. Sie stehen da so schmuck und sauber, sie zeigen hier mal eine geschmackvolle Vase, da mal einen Kronleuchter, eine Reihe von Atelierfenstern im Dachgeschoss, eine blankpolierte Türklinke und natürlich ein hübsches System vom Alarmanlagen. Ja, so würde ich auch gerne leben, ich verteile die Zimmer an meine Familie, ich richte im Keller einen Probenraum ein und bringe im Garten einen Basketballkorb an.

Ich werde nie so leben. Ich habe es zu nichts gebracht. Aber der Gedanke erschüttert mich nicht mehr. Ich habe es noch nicht geschafft, das System, in dem wir leben, zu verstehen, es ist so komplex und so gerecht wie ungerecht.

Jeder Mensch kann in diesem Land zu Wohlstand kommen, theoretisch. Jedem Menschen steht es frei, sich zu bilden und eine Karriere zu machen. Abstammung spielt kaum mehr eine Rolle. Er muss nur die erforderlichen Anlagen, die Begabungen, mitbringen, und so Sachen wie Fleiß und Willen. Vielleicht eine gewisse Rücksichtslosigkeit. Dann kann er es zu was bringen. Zum Vorstandschef einer großen Firma wie VW etwa.

Dann kann er Millionen verdienen. Siebzehn Millionen in einem Jahr, zum Beispiel. Wenn einer Arzt wird, wofür er viele Jahre studieren muss, und dann im Krankenhaus arbeitet, wo er dann wiederum viele Stunden arbeiten muss und wo er schwere Entscheidungen treffen muss, die ihn sehr belasten können, dann verdient er ein paar Tausend Euro im Monat.

Er gehört zu den Besserverdienenden und wird immer noch beneidet, von einigen Leuten, die auch hart arbeiten, aber weniger verdienen. Bezahlt wird ein Arzt auch für seine Qualifikation und seine Verantwortung. Ein Vorstandschef einer Firma, sagen wir VW, wird auch für seine Qualifikation bezahlt und vielleicht auch für seine Arbeit, aber gemessen an der Arbeit eines Arztes, wie viele Stunden des Tages kann so ein Vorstand arbeiten und wie qualifiziert kann er sein? Wie viel Verantwortung muss er tragen, um siebzehn Millionen Euro in einem Jahr zu verdienen? In welchem Verhältnis steht also das, was er verdient, zu dem, was er leistet? Steht es überhaupt noch in einem Verhältnis? Kann es das überhaupt? Und wenn es das nicht tut, ist es dann nicht Bereicherung?

Wenn ein Arzt die falschen Entscheidungen trifft, nachlässig war, wird er zur Verantwortung gezogen, manchmal sogar rechtlich. Manchmal muss er sich vor Gericht verantworten, weil er etwas falsch gemacht hat. Ein Arzt darf nichts falsch machen, weil er zu viel Verantwortung hat. Wenn ein Manager einen Betrug zu verantworten hat, wie er im großen Maßstab in den Volkswagen-Werken passiert ist, tritt er vielleicht ab, aber er bekommt immer noch Bonuszahlungen, weil ihm diese vertraglich zustehen. Und die anderen Vorstände, die ebenfalls Verantwortung tragen, bekommen auch Bonuszahlungen, in Höhe von Millionen Euro.

Der Volkswagenkonzern ist in einer Krise, es muss gespart werden, Arbeiter müssen entlassen werden, Arbeiter, die nicht für die Krise verantwortlich sind, die Verantwortlichen hingegen überlegen, ob sie sich ihre Millionen Euro Bonuszahlungen angesichts der Krise kürzen lassen. Vielleicht kürzen, nicht drauf verzichten. Bonuszahlungen für die vergangenen Jahre wirtschaftlichen Erfolgs. Der, nebenbei, auch auf einem Betrug beruht.

Ich bin nicht so traurig, dass ich kein großes Haus habe, ich bin gar nicht traurig, dass ich keine siebzehn Millionen verdiene, denn wenn ich das täte, dann würde ich mit solchen Leuten zum Mittagessen gehen müssen, mit solchen Leuten, die keinen Anstand besitzen. Und das wäre es mir nicht wert.

Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.