Angekommen im Klassenzimmer

Willkommensklassen Seit Februar 2015 richteten deutschlandweit 21 Waldorfschulen Flüchtlingsklassen ein. Seitdem haben Lehrer und Verantwortliche spannende Erfahrungen gemacht

von Mirjam Beile

2015 kamen rund 325.000 schulpflichtige Flüchtlingskinder nach Deutschland. Im Februar desselben Jahres gründete die Waldorfschule Berlin-Dahlem die erste Willkommensklasse. Mittlerweile gibt es 21 Rudolf-Steiner-Schulen mit homogenen und gemischten Flüchtlingsklassen – Tendenz steigend.

Sonder- und Waldorfpädagoge Bernd Ruf ist Experte in Sachen Notfallpädagogik und Schulleiter des Parzival-Zen­trums Karlsruhe. Dort sind momentan 160 Flüchtlingskin­der untergebracht – Rekord unter den deutschen Waldorfschulen. Das Gebot, Deutsch lernen müsse an erster Stelle stehen, sieht er kritisch. „Diese Kinder sind durch die Flucht in der ­Regel mehrfach traumatisiert“, sagt er, „sie können nicht einfach so loslernen. Zuerst einmal müssen ihre Traumata gelöst werden, denn die behindern das Lernen und die Aufnahmefähigkeit enorm. Häufig befinden sich die Kinder in einem Freeze-Zustand. Diese Barriere, die sie förmlich erstarren lässt, wird leider allzu oft als Schreibblockade oder gar Intelligenzschwäche fehlinterpretiert.“

Viel wichtiger ist es für Lehrer zunächst, diese verletzten Seelen zu stabilisieren – dabei kommt ihnen der Ansatz Rudolf Steiners zugute. Ruf: „Nicht nur die kognitiven Fähigkeiten spielen eine wesentliche Rolle, sondern die Ganzheitlichkeit des Lernens. Kopf, Herz und Hand: Wo Traumata diese Einheit gespalten haben, hilft die Waldorf-Pädagogik, die Grundelemente wieder zu verbinden.“

Wie den Flüchtlingskindern der anthroposophische Ansatz, die Welt mit allen Sinnen zu erfahren und nicht nur Sachwissen zu erlernen, konkret entgegenkommt, beschreibt Schulärztin Roswitha Rodewig von der Rudolf-Steiner-Schule in Witten: „Viel Bewegung durch Zirkus- oder Wandertage und Heil­eurythmie, praktische Dinge wie Handarbeit oder Ackerbau, Rituale wie Begrüßung und gemeinsames Singen: das alles sind Bausteine, die unabhängig von Sprache funktionieren und der ganzen Persönlichkeit guttun.“ Dass kein Notendruck herrscht, weil es bis zur zehnten Klasse keine Zensuren gibt, macht es den Neulingen zusätzlich leichter. Rodewig: „Die Kinder haben schnell ein Erfolgserlebnis jenseits der messbaren Leistung, sie können und schaffen etwas. Dadurch blühen sie regelrecht auf.“

Mit den eigenen Augen sehen und erfassen, experimentieren und Zusammenhänge herstellen: Johannes Hüttich, Lehrer an der Freien Waldorfschule Kassel, setzt auf den phänomenologischen Ansatz vor allem in naturwissenschaftlichen Fächern – auch und gerade, weil er Sprachbarrieren umgehen kann. „Diese Art des Unterrichts bietet enorme Vorteile: Vertrauen in das eigene Denkvermögen zu schaffen, ohne gleich mit mathematischen Formeln zu kommen.“

Lehrer Sönke Bohn von der Freien Waldorfschule in Berlin-Mitte schätzt den sinnlichen Aspekt. „Wir kochen selbst, werken und malen mit naturbelassenen Materialien, haben echte Schafe, Hühner und Hasen.“ Von ganz anderer Art sind die Breakdance- und Beatboxkurse, die laut Bohn gelegentlich angeboten werden. Auch das kann sinnlich sein – eben auf moderne Weise.

Unter Eltern und Schülern ist die Akzeptanz der zunehmenden Zahl von Flüchtlingskindern sehr groß, ebenso die Bereitschaft, zu helfen, da sind sich alle Befragten einig. Auch seien ernsthafte Probleme im Schulalltag bislang noch nicht aufgetaucht. Die Aufteilung der Flüchtlingskinder spielt da allerdings eine wesentliche Rolle, was das Beispiel Berlin überdeutlich zeigt: Dort werden derzeit laut Angaben der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft von 9.300 Kindern nur 28 an Waldorfschulen unterrichtet.

Es ist womöglich aber auch eine Frage der Herangehensweise. Von schlechten Erfahrungen etwa will Bernd Ruf gar nicht erst sprechen: „Diese Bezeichnung ist schon ein ganz falscher Ansatz. Wenn sich beispielsweise ein Kind etwas zu essen auf die Seite schafft, dann hat es nicht geklaut, sondern dieses Verhalten im Krieg oder auf der Flucht gelernt. Da sollte man nicht empört reagieren.“ Es sei vielmehr immer wieder eine Herausforderung, sagt er, mit ethnischen Besonderheiten, etwa dem Verhältnis junger Männer zu Frauen, oder Verhaltensauffälligkeiten, die auf traumatische Erlebnissen zurückzuführen seien, umzugehen. Roswitha Rodewig fasst es so zusammen: „Man muss sich enorm kümmern und hellwach sein.“

Es ist ein weiter Weg, der noch zu gehen ist. Barbara Schiller, Notfallpädagogin von StART international, rät zu einer guten Portion Humor: „Wir sollten uns der Realität mit einer inneren Leichtigkeit stellen, ohne ihre Dramatik aus den Augen zu verlieren. Wir sollten viel lachen bei der Arbeit – Kinder brauchen das.“ Bernd Rufs Appell gilt denn auch über die Grenzen der ­Waldorfschulen hinaus: „Wir dürfen den Problemen nicht aus dem Weg gehen, nicht ängstlich in Lähmung verfallen, sondern sollten bereit sein für Veränderungen – dann kriegen wir das auch hin.“