Waldorf für die Anden

VOLKSBILDUNG Wie ein Verein mit Erziehungskunst nach Rudolf Steiner der peruanischen Bildungsmisere zu Leibe rückt. „Schule unterwegs“ bildet auf eigene Kosten Lehrer aus

von Nicolas Flessa

„Dass ich lesen gelernt habe, ist das Beste, was mir im Leben passiert ist.“ Wie zentral diese Aussage für das Wirken des späteren Literaturnobelpreisträgers Mario Vargas Llosa ist, verrät ein Blick auf das Pi-Ranking seines Heimatlandes. Nicht nur im Bereich Lesekompetenz belegt Peru mit gerade mal 384 Punkten deutlich den letzten Platz aller 64 teilnehmenden Nationen. Der Zusammenhang zwischen mangelhafter Bildung und Wirtschaftskraft ist kaum zu übersehen: 2013 belegte der Andenstaat mit einem Bruttoinlandsprodukt von schätzungsweise rund 6.700 Dollar pro Kopf den 85. Platz in der Weltrangliste.

Die Ursachen für den akuten Bildungsnotstand des südamerikanischen Landes sind vielfältig. Fast die Hälfte der indigenen Schüler erhalten keine Ausbildung in ihrer Muttersprache, obwohl Quechua und Aymara längst als offizielle Amtssprachen anerkannt sind. Hinzu kommt, dass aufgrund der großen Armut im Land etwa ein Drittel der Kinder zwischen 5 und 17 Jahren ihre Familien durch Arbeit unterstützen – Zeit, die vor allem für die Ausbildung fehlt. Das größte Problem aber stellt die außergewöhnliche Topografie des Landes dar. Gerade für jene Kinder, die im abgelegenen Hochland der Anden oder in den Gebieten des Regenwalds leben, ist der Schulweg bis­weilen so beschwerlich, dass nicht selten auf ihn verzichtet wird.

Um diesem Missstand zumindest in Teilen abzuhelfen, gründete der gemeinnützige Verein Pro Humanus das Projekt „Schule unterwegs“. Seit nunmehr sieben Jahren besuchen Mitglieder wie die Schweizer Lehrerin und studierte Waldorfpädagogin Christin Brodbeck-Berger Kindergärten und Grundschulen in den abgelegenen Gebieten Perus und bilden dort auf eigene Kosten Lehrer aus. Mit ihrer Arbeit möchten sie einen Beitrag zur Verbesserung der Erziehungssituation vor Ort leisten. Dies geschieht etwa durch künstlerisch-pädagogische Arbeit und Fortbildungskurse in den Grundlagen der Waldorfpädagogik. „Die Lehrer sind gefordert, den Unterrichtsstoff nicht einfach bloß nach Lehrbuch zu vermitteln, sondern ihn selbst künstlerisch so zu verarbeiten, dass sich der Schüler – seinem Alter entsprechend – daran begeistert und mit Freude lernen kann“, so Brodbeck- Berger. „Wir sprechen von Erziehungskunst.“

Die Waldorfpädagogik, jene auf Rudolf Steiner zurückgehende Lehre, die er 1919 für die Betriebsschule der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik entwickelte, legt großen Wert auf die gleichberechtigte Förderung intellektueller, künstlerischer und handwerklicher Fähigkeiten. Dass sich diese bald 100 Jahre alte Lehre heute weltweit so großer Beliebtheit erfreut, hängt nicht zuletzt mit der zeitlos modernen Kritik an den üblichen Qualifikations- und Selektionsanforderungen des gewöhnlichen Schulsystems zusammen. Berührungsängste mit dem pädagogischen Ansatz des Anthroposophen Steiner haben die Mitarbeiter von Pro Humanus im streng katholischen Peru bislang nicht erlebt. „Ich hatte vielmehr den Eindruck, dass die Menschen diesem ‚Neuen‘ in einer sehr offenen Art begegnen“, so Christin Brodbeck-Berger. „Der Ruf von Lehrern aus ganz Peru nach einer ausführlichen Waldorf­lehrer-Aus- und -Weiterbildung wurde immer lauter.“ So entwickelte Pro Humanus im letzten Jahr eine auf fünf Jahre ausgelegte berufsbegleitende Lehrerausbildung, deren erstes Modul im Februar dieses Jahres stattfand. 85 Teilnehmerinnen und Teilnehmer nahmen das Angebot von Pro Humanus bislang wahr.

Für Brodbeck-Berger ist das Studium der verschiedenen grundlegenden Schriften Rudolf Steiners berufsbegleitend nicht nur zeittechnisch eine große Herausforderung. Die Studierenden finanzieren ihre Anreise und ihren Aufenthalt für die Dauer der Fortbildungen in der Landeshauptstadt Lima zum größten Teil selbst. Ergänzend hierzu spricht der Verein Förderer und Stiftungen in Deutschland und in der Schweiz an, die sich auf die Förderung notleidender Kinder spezialisiert haben. Allein könnte das Team von Pro Humanus dieses gewachsene Engagement auch organisatorisch kaum schultern. Es hat sich daher die Unterstützung von verschiedenen anthroposophischen Institutionen aus dem pädagogischen und medizinischen Bereich an Bord geholt, unter anderem Mitarbeiter aus dem Stammhaus in Dornach, dem sogenannten Goetheanum. Die neue Lehrerausbildung stellt gewissermaßen die Nachfolge des ab 2016 langsam auslaufenden Programms „Schule unterwegs“ dar. „Die Praxis hat gezeigt, dass durch die Art, wie die bisherige Unterstützung erfolgte, einfach zu wenige Menschen erreicht werden konnten,“ so Brodbeck-Berger.

Neben dem großen finanziellen und zeitlichen Aufwand hatte auch die Sorge um eine größere Nachhaltigkeit zu diesem strategischen Kurswechsel von Pro Humanus geführt. „Auf diesem Weg erreichen wir einfach viel mehr LehrerInnen, denen wir die Grundlagen der Waldorfpädagogik nahebringen können.“