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Kleiner See aus Polyester

Kunst Die Ausstellung „Undisturbed Solitude“ in Hamburg lebt vom Dialog zwischen den beteiligten KünstlerInnen – und einem schlau inszenierten Anziehen und Abstoßen der Betrachtenden

Wie sieht eigentlich eine Erdbeere die Welt? Und was entgeht uns, wenn wir sie übersehen?

Einmal Virtualität und zurück: Zwischen digitaler und materieller Welt bewegten sich die vier schweizer KünstlerInnen, die derzeit im Hamburger Kunsthaus das allseits gepriesene Einzelkämpfertum durchbrechen wollen. Das Konzept zu „Undisturbed Solitude“ sei in ihrer Küche entstanden, sagt Ausstellungsmacherin Chus Martinez, die Chefkuratorin der Documenta 13 war und derzeit die Hochschule für Gestaltung in Basel leitet. Beim gemeinsamen Kochen hätten die Beteiligten ein Gesamtkunstwerk ersonnen, bestehend aus teils eigens dafür geschaffenen Arbeiten.

Diese beginnen als Spiel mit zweckentfremdetem Alltagsmaterial: Wie ein Kind hat Johannes Willi für den experimentierfreudigen Non-Profit-Ort eine kleine Version des örtlichen Binnengewässers gebaut; das Becken dieser Alster formen bunte Polyester-Schwimmnudeln. Fontänen sprühen, ein paar Zweiglein mit rustikalen Ton-Händen samt Zigarette stehen drin – Willi hat genommen, was er gerade fand.

Und es funktioniert. Man erkennt die Wasserlandschaft und ist sofort bereit, sie für die Alster zu halten; schließlich weiß jedes Kind, dass ein Plantschbecken zum See wird, sobald man es so nennt. Dass die Transformation ganz leicht ist, wenn man sich nur traut.

Könnte das fließende Wasser nicht auch für digitale Datenströme stehen? Ja, findet Emil Michael Klein, und hat gleich daneben mannshohe, dreidimensionale Hashtags in Rosa und Grün an die Wand gehängt. Kuratorin Martinez findet zwar, das seien keine Skulpturen, sondern Gemälde. Aber um Überschreitungen – des Egos, der Genres – ging es ja gerade.

Warum also nicht bei dieser Ikone des Internets, die tatsächlich wie ein Heiligtum an der Wand hängt und zugleich die digitale Welt, aus der sie kommt, konterkariert: Als zu Verkaufendes gilt Digital Art als gescheitert, weil man sie so schlecht in SammlerIns Wohnzimmer stellen oder hängen kann. Deshalb produziert mancher Internet-Künstler inzwischen wieder Haptisches. Das bezeugen Kleins 3-D-Hashtags mit Humor.

Und dann gibt es noch die Zwischenform, das Video: Tiphanie Malls Bildschirmchen stehen da am Boden, hingehockt wie Spione der besonderen Art: Das Wachsen einer Erdbeerpflanze zeigen sie, nicht retrospektiv, sondern live; nicht dokumentarisch abbildend, sondern zur Empathie einladend: Wie sieht eigentlich eine Erdbeere die Welt? Und was entgeht uns, wenn wir sie übersehen?

Und wer vegetiert eigentlich sonst noch am Rande der Gesellschaft? Es sind ja nicht nur die Pflanzen, deren Langsamkeit uns nervös machen kann. Auch die alten Leute, die Tiphanie Mall in Paris filmte, wirken fremd: Im Einkaufscenter, am Treppengeländer, im Parkhaus stehen sie zögerlich, tastend, ratlos herum, als gehörten sie nicht zu uns. Und manchmal steht die BetrachterIn quasi mit im Film, hastet hinter ihnen durch die Drehtür – und fürchtet, dass sie es nicht schaffen.

Für ihren dritten Film hat Tiphanie Mall junge Afrikanerinnen beim Tanz aufgenommen, Auszubildende einer staatlichen Putzfrauen-Schule für elternlose Migrantinnen. Auf dem Bildschirm freuen sich die jungen Frauen sichtlich an Musik und Bewegung – aber die BetrachterIn kommt dabei nicht mit: Es fehlt der Ton, wer schaut, wird selbst gehörlos, hat nicht teil an der Welt der Gezeigten. Schlau hat die Künstlerin also umgedreht, was MigrantInnen auch in Europa erleben. Ganz ohne zu moralisieren.

Petra Schellen

„Undisturbed Solitude“: bis 10.4., Hamburg, Kunsthaus

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