Häh? Die Weltformel Stringtheorie lässt sich empirisch kaum testen. Ist das noch Wissenschaft?
: Ziehen Sie jetzt Ihre 10-D-Brille auf

von Ingo Arzt

Was der modernen Physik fehlt, ist ein Merkur. Nicht dass er verschwunden wäre. Jeden Abend erscheint der sonnennächste Planet am Firmament. Nein, er steht für ein berühmtes Beispiel, wie theoretische Physik empirisch überprüft werden kann.

So ein Nachweis wird dringend gesucht. Seit den 70er Jahren basteln Physiker an der Stringtheorie. Sie ist nicht irgendeine Theorie, sondern heißester Kandidat für den Versuch, final zu erklären, wie das Universum, Materie, wie alles funktioniert.

Dummerweise sprengt die Theorie aber den Weg klassischer Forschung. Sie lässt sich experimentell so gut wie nicht überprüfen.

Wie eine Gitarrensaite

Als Albert Einstein 1915 die Allgemeine Relativitätstheorie formulierte, verwirrte er seine Zeitgenossen, weil das Universum auf einmal ein biegsames Raum-Zeit-Gebilde war. Aber Einstein lieferte eine Anleitung, wie seine Theorie experimentell widerlegt werden kann. Falsifizierung nannte der Philosoph Karl Popper das später: Die stärkste Bestätigung einer Theorie ist der misslungene Versuch, sie zu widerlegen. Einstein berechnete mit seinen Gravitationsgleichungen die bis dahin rätselhafte Bahn des Planeten Merkur und sagte, dass seine Relativitätstheorie falsch ist, sollte sich die Bahn nicht durch Messungen exakt bestätigen. Sie bestätigte sich.

Bei der Stringtheorie ist diese Falsifizierung nicht möglich. Bei keinem der fünf Varianten, auch nicht bei ihrer Zusammenführung in der M-Theorie. Ist das noch Wissenschaft?

Die Debatte darüber geht durch die internationalen Fachblätter. Georg Ellis von der Universität Cape Town oder Joe Silk von der Universität Baltimore verneinten das im Dezember 2014 im Fachmagazin Nature. „Verteidigt die Integrität der Physik“, titelten sie und sahen ihr Fach verloren in einem Niemandsland zwischen Mathematik, Philosophie und Physik. Die Stringtheorie sei so vielfältig, beliebig und kaum mehr als eine vage Hoffnung.

Richard Dawid, Professor für Philosophie der Physik in Stockholm und theoretischer Physiker, schrieb zur Debatte über die Stringtheorie ein Buch. Dawid glaubt, dass die Stringtheorie unsere Ansichten darüber ändert, wie wir zu wissenschaftlichen Erkenntnissen kommen: „Die Stringtheorie ist eigentlich eine simple, geniale Intuition: Sie besagt, dass alles aus eindimensionalen, winzigen Objekten besteht“, erklärt er.

Wie die Saiten einer Gitarre. Die sind, sieht man von ihrer winzigen Breite ab, auch eindimensionale Striche. Deshalb hat man die Theorie so genannt: String, Saite. Sie sind so klein, dass es nichts Kleineres gibt. Wäre ein String so groß wie ein Wasserstoffatom, dann wäre ein Wasserstoffatom rund 1.000 Mal so groß wie die Erde. Was die Theorie genial macht, ist, dass sie es schafft, eines der größten Probleme der Physik zu lösen.

Quantenphysik und Allgemeine Relativitätstheorie beschreiben die vier Kräfte im Universum. Zwei sind nur in Atomen wirksam. Eine weitere ist die elektromagnetische Wechselwirkung, die jeder kennt, der schon mal mit Nadeln in einer Steckdose gestochert hat. Die vierte Kraft ist die Gravitation, die uns Bodenhaftung gibt. Dumm, dass die Formeln, die diese Kräfte beschreiben, nicht zusammenpassen. Es braucht eine grundsätzliche Theorie; das könnte die Stringtheorie sein. „Die lässt sich blöderweise mathematisch nur formulieren, wenn man mit zehn Dimensionen rechnet“, sagt Dawid. Unsere Welt erscheint daneben so plump wie ein Smiley neben der Mona Lisa. Zehn, möglicherweise elf Dimensionen? Wir kennen vier: die Zeit und drei Raumrichtungen. Was sollen sechs weitere? Keine Metapher kann das beschreiben.

Klingt irre, aber läuft

Es gibt einige denkbare Experimente, deren Ausgang die Theorie bestärken könnten. Beispielsweise könnten am Teilchenbeschleuniger LHC am Cern sogenannte supersymmetrische Teilchen auftauchen, die von der Stringtheorie vorhergesagt werden. Ein weiterer Hinweis könnte die Gravitation liefern. Ein Magnet an der Kühlschranktür ist stärker als die Gravitation der Erde, sonst würde der Magnet herunterfallen. Warum? Physiker vermuten, dass die Gravitation sich in den Extradimensionen ausbreitet und so an Stärke verliert. Klingt irre, entsprechende Messungen laufen aber bereits, bisher ohne Ergebnis.

All diese Experimente haben ein Problem: Sollten sie negativ ausfallen, wäre die Stringtheorie nicht widerlegt. Sie würden nur einige denkbare Varianten ausschließen.

„Die Vorstellung: Da ist die Theorie und dann ist da noch eine externe Welt, die dem entspricht, funktioniert nicht“

Richard Dawid, Professor für Philosophie der Physik

„Die Vorstellung: Da ist die Theorie und dann ist da noch eine externe Welt, die dem entspricht, funktioniert nicht. Vieles in dieser Theorie lässt sich nur über die Beschreibungen erfassen, die aus ihr selbst resultieren“, sagt Dawid.

Vielleicht entziehen sich die finalen Gesetze des Universums schlicht unserer Empirie. Dann brauche es eine neue Wissenschaftstheorie, sagt Dawid. Man muss es ernst nehmen, dass die Stringtheorie der einzige Weg zu sein scheint, Gravitation und Kernkräfte gemeinsam zu beschreiben. Mit der Stringtheorie lassen sich auch Phänomene erklären, die sie ursprünglich gar nicht erklären wollte. Ein starker Hinweis auf Plausibilität. Auch Einstein wollte nicht die Bahn des Merkur beschreiben, sondern die Natur des Lichts.

„Faszinierend an der Stringtheorie ist ihre Finalität. Sie liefert Gründe dafür, dass sie, voll entwickelt, nie mehr durch eine noch präzisere Theorie ersetzt werden müsste“, sagt Dawid.

Sie ist aber nicht wie Einsteins Relativitätstheorie der Geniestreich eines Einzelnen. Die Stringtheorie ähnelt eher der Datenbank eines abgestürzten Ufos: Sie ist da, sie ist mächtig, sie zu entschlüsseln scheint aber fast unmöglich.

„Wann die Theorie formuliert ist, vermag ich nicht zu sagen. Noch wissen wir ja nicht mal, was sie genau bedeutet“, sagt Dawid.