Der Neoprenanzug war ein paar Nummern zu groß

Erzählung Kleines Meisterwerk: "Verschwunden" von Colum McCann

Colum McCann, der 1965 in Dublin geboren wurde und in New York lebt, ist ein Meister der Kurzgeschichte. Seine Geschichte „Verschwunden“ heißt im Original „Sh’khol“ – und darum geht es auch. Es gibt in den meisten Sprachen Begriffe für Menschen, die eine nahestehende Person verloren haben: Witwe, Witwer, Waise. Aber kein Wort beschreibt Eltern, die ein Kind verloren haben. Im Hebräischen gibt es einen solchen Begriff: „Sh’khol“ eben, was auch „umschattet“ bedeutet.

Die Übersetzerin Rebecca Barrington lebt mit Tomas, ihrem russischen Adoptivsohn, an der Küste der westirischen Grafschaft Galway. Der Junge ist 13 Jahre alt, er ist wegen des Alkoholmissbrauchs seiner leiblichen Mutter während der Schwangerschaft taub. Zu Weihnachten schenkt Rebecca ihm einen Neoprenanzug, der ein paar Nummern zu groß ist. Er soll ein paar Jahre halten. Am nächsten Morgen ist Tomas verschwunden. Sie sucht ihn, findet seine Turnschuhe, springt selbst ins Meer und muss unterkühlt an Land gezogen werden. Es beginnt die tagelange polizeiliche Suche nach dem Kind, und mit jeder Stunde wächst Rebeccas Angst vor „Sh’kol“.

McCanns Stärke ist die genaue Beobachtung, viele seiner Geschichten beruhen auf realen Begebenheiten, und er skizziert seine Figuren so genau, dass man sich in sie hineinversetzen kann. So ist ein kleines Meisterwerk entstanden. Ralf Sotscheck

Colum McCann: „Verschwunden“. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Dörlemann, Zürich 2016, 96 Seiten, 15 Euro