Ein Boysclub geht auf Klassenfahrt

Gruppe 47 Handkes Ausbruch, Grass’ Schnäuzer, Walter Jens’ Anzug und mittendrin der elektrische Stuhl – Jörg Magenau beschreibt einen Wendepunkt in der bundesdeutschen Literaturgeschichte: „Princeton 66“

Die Ankunft der Gruppe 47 in ihrem Hotel in Princeton Foto: Renate von Mangoldt

von Hanna Engelmeier

Am 22. April dieses Jahres begehen wir das 50-jährige Jubiläum der berühmtesten Dienstreise des deutschen Literaturbetriebs nach 1945. Die Gruppe 47, die damals schon seit knapp zwanzig Jahren daran arbeitete, zur unfehlbaren, unhintergehbaren und inoffziellen Institution in Sachen Poesie zu werden, hatte sich 1966 aus Mitteln der Ford Foundation an die amerikanische Universtität Princeton einladen lassen. Jörg Magenau hat über diese Tage der deutschen Literatur an der Ostküste der USA nun ein Buch geschrieben: „Princeton 66. Die abenteuerliche Reise der Gruppe 47“ verspricht auf dem Klappentext, ein „kulturgeschichtliches Panorama“ aufzufalten, das zeigt, wie hell die Glorie der Gruppe 47 damals über den Atlantik hin und her leuchtete.

Der Akzent liegt auf dem Präteritum: Die meisten der damals Mitgereisten sind mittlerweile tot (der Initiator der Reise Hans Werner Richter, Marcel Reich-Ranicki und Hans Mayer, Günter Grass), einige auf dem Weg an die äußersten Ränder der Bekanntheit (Hermann Peter Piwitt) oder in die Deutschbuch-Starre (Gabriele Wohmann, Erich Fried), andere erzählen jetzt vor allem von früher (Hans Magnus Enzensberger) oder von Pilzen (Peter Handke).

Warum, und falls ja, wie die Schilderung eines 50 Jahre zurückliegenden Treffens dieser Figuren zu einem kulturgeschichtlichen Panorama werden könnte, ist eine Frage, die Jörg Magenau einerseits durch das Arrangement von historischem Handbuchwissen über die USA und die BRD rund um die Darstellung der Lesungen in Princeton beantwortet. Deren Anspruch auf Aktualität durch überragende poetische Bedeutung scheint gesetzt zu sein: Zumindest gibt es wenig anderslautende Rückfragen an das Material des Buches. Andererseits geht das Raunen einer heute vergangenen Zukunft durch das Buch (Gerd Fuchs würde später einmal Spiegel-Redakteur werden, Alexander Kluge brachte zehn Jahre später …), dazu kommen Einsichten in den Charakter von Literatur und Literaten: „Diese Offenheit ist ja das Schöne an der Literatur“, außerdem: „Schriftsteller sind Einzelwesen“, manche sogar „sozial bedürftige Wesen“.

Phase größter Bedeutung

Das Hauptziel des Buches besteht aber darin, eine lebendige Darstellung der Lesungen der Gruppe anzubieten, indem sie detailreich geschildert werden. So wird ein Wendepunkt in der deutschen Literaturgeschichte greifbar, denn die Gruppe erreichte zwar in Princeton „die Phase ihrer größten Bedeutung“, trat aber durch Auseinandersetzungen über die politischen Ansprüche der Literatur und ihrer Autoren gleichzeitig langsam in die Phase der Auflösung ein.

Magenau sieht wichtige Gründe dafür in „der Suhrkamp-Kultur und neuen Medien“, gemeint sind damit Taschenbücher, zitiert wird dazu „Paperback Writer“ von den Beatles, Überleitung zu Peter Handkes Topfschnitt im Jahr 1966. Der Verweis auf die Taschenbücher als neues und die Literatur als altes Medium ist vor allem deshalb auffällig, weil ihm nicht nachgegangen wird, Literatur hat bei Magenau keine nennenswerten materiellen Bedingungen oder Eigenschaften, Text ist gleich Geist, die Gruppe sein Gefäß. Ohne die speziellen medialen Bedingungen, unter denen das Treffen der Gruppe 47 in Princeton stattfand, wäre Magenaus Erzählung allerdings überhaupt nicht möglich.

Das Aussehen der einzelnen Mitglieder rekonstruiert er anhand von Fotografien, von denen auch einige im Buch abgebildet sind, aber als Quelle kaum thematisiert werden. Dort sieht man: Walter Jens’ zu großen Anzug, die Karomuster auf Peter Handkes Hemd und Jackett, Grass’ Schnäuzer. Alle rauchen, es muss dementsprechend oft gelüftet werden im Tagungsraum der Gruppe. Es dringen Geräusche vom Princetoner Campus in den Raum, darauf wird mehrfach in den Lesungen und darauf folgenden Diskussionen Bezug genommen.

Das wiederum ist über die Tonbänder zu rekonstruieren, auf denen die Mitschnitte des Treffens gespeichert sind. Magenau hat diese Tonbänder offenbar gehört, er beschreibt unter anderem das Glockenläuten, das immer wieder in den Raum dringt, Flugzeuggeräusche und Alarmsirenen, die hohe, knabenhafte Stimme Peter Bichsels, die stotternde Diktion Handkes, als der zu einer Klage über die in der Gruppe vorherrschende „Beschreibungsimpotenz“ anhebt. Er zielte damit auf das Aneinanderreihen von Einzelheiten in möglichst nüchternen Hauptsätzen ab, das stilistisch der neuen Sachlichkeit entlehnt und „öde und primitiv“ sei; Handke praktizierte es trotzdem auch selbst.

Verschwundene Quellen

Magenau, der zu Anfang des Buches beispielsweise berichtet, wie Autorengattin Barbara König (die danach nie wieder vorkommt) bei Macy’s Baby­kleidung und einen Bademantel kauft, setzt sich mit Handkes Ausbruch lange auseinander. Dabei wird jedoch an keiner Stelle im Text erwähnt, woher er seine Informationen bezieht, welche Medien es sind, die ihm erlauben, eine retro­spektive Akustik und Optik des Treffens zu erstellen. Dazu gehören nicht nur die Originaltonbänder und Fotos, sondern auch Briefe, die sich die Mitglieder der Gruppe 47 untereinander schrieben, Kommuniqués der Universitätsleitung, Presseberichterstattung, nachträglich erstellte Radiofeatures darüber und einiges mehr.

Für Magenau hat Literatur keine nennenswerten materiellen Bedingungen

Literatur, die ihre Quellen derartig zum Verschwinden bringen möchte, arbeitet normalerweise im Modus des Fiktiven und wählt als Genre beispielsweise den Roman oder die Novelle. Eine andere Möglichkeit, einen literarischen oder literaturwissenschaftlichen Text zu schreiben, der mit einer so großen Zahl von unterschiedlichen Quellen umgehen muss, ist eine Collage. Solche Versuche gibt es, einer stammt von den Princetoner Germanisten Nikolaus Wegmann und Cornelius Reiber und ist 2012 in der Fachzeitschrift Sprache und Literatur nicht besonders öffentlichkeitswirksam platziert worden. Auf der Homepage des German Department in Princeton sind die Tonbänder frei zugänglich nachzuhören. In der Auswahlbibliografie zum Buch sind die Mitschnitte aufgeführt; dass sie im Text nicht erwähnt werden, vergibt die Chance zu thematisieren, wie und aus welchen Gründen sich die Gruppe 47 selbst archivierte und auf welche Weise wir heute davon wissen und darüber reden können.

Die Folge ist eine Darstellung, die Literaturgeschichte als Abenteuer annonciert, aber dann doch in einer ganz unklaren Textsorte landet: das Buch ist zu kostbar für schmutzige kleine Geschichten am Rande, will also kein Boulevard sein, es informiert zu stark für eine literarische Erzählung und landet im Tonfall damit in einem Parlando, das man je nach Vorliebe gemütlich oder betulich finden kann.

Dabei kippt das Buch immer wieder in den Rezensionsmodus um, sodass Walter Höllerer gegen Peter Weiss ausgespielt wird (“radikaler und überzeugender“ sei dieser). Häufiger verweist das Buch mit Genuss auf den „elektrischen Stuhl“, auf dem die Vortragenden in der Gruppe 47 Platz nehmen mussten.

Ein Boysclub geht auf Klassenfahrt und wandelt sich in eine Dienstreise von Scharfrichtern: die nachhaltige Anziehungskraft dieses „Abenteuers“ besteht offenbar darin, dass diese scheinbar letzte heroische Phase der deutschen Literatur nichts mehr von der „Tapferkeit vor dem Freund“ wissen wollte, die Ingeborg Bachmann, ebenfalls Gruppe 47, gefordert hat. Damit hat sie allerdings nicht allein ihre Kollegen gemeint, deren Auseinandersetzung mit Literatur immer von Freunden und Feinden handelte, als Gegenstück zur Beschreibungsimpotenz entstand Exeku­tions­bereitschaft, die als Urteilsfreude missverstanden wurde. Wie diese Verwechslung Schule machen konnte, wäre Thema eines anderen Buches. Wie wir überhaupt etwas darüber wissen können, hätte aber auch hier dabei geholfen, die Faszi­nationsgeschichte einer Autorengeneration zu verstehen.

Das gelingt nicht, weil das Unsichtbarmachen der Quellen in „Princeton 66“ die Distanz zu den bedingungslos ernsten und humorfreien Impulsreferaten, zu den fauchenden Kritikern und auch zu den darin besprochenen Texten verwischt. Diese Distanz springt einen aber umso härter an, je näher man an die Quellen der Autoren herangeht, die allein durch ihre Zwischenkriegsgeburtsjahrgänge biografischen Reichtum mitzubringen scheinen. In dem Raum, der sich auftut, wenn man diesen Abstand zulässt, könnte man sehr gut arbeiten.

Jörg Magenau: „Princeton 66“. Klett-Cotta, Stuttgart 2016, 224 Seiten, 19,95 Euro