Berliner Szenen
: Der Fastnamensvetter

Dummer Fehler

Der Brief sagt mir: Du bist ein schlechter Mensch

Der Stapel Briefe, der neben meinem Laptop auf dem Schreibtisch liegt, ist selten ein Quell guter Laune. Da landen meist behördliche Schreiben, deren Anblick mir so viel Freude bereitet wie der von Herpes. Nun aber ist es schlimmer. Ganz oben liegt seit einigen Tagen ein Brief, der mir ein schlechtes Gewissen macht. Der mir sagt: Du bist ein schlechter Mensch.

Es handelt sich um einen Brief mit schwarzer Umrandung, vermutlich einen Trauerbrief. Er ist ungeöffnet. Und: Er war nicht an mich adressiert, sondern landete fälschlicherweise bei mir im Briefkasten. Eigentlich sollte er jemanden erreichen, der eine Straße weiter wohnt und dessen Nachname meinem ähnelt. Ich hätte dem Fastnamensvetter den Brief längst bringen müssen, aber ich vergaß es immer.

So sitze ich nun da mit dem Wissen, das ist nicht in Ordnung, die Beerdigung ist wohl längst gelaufen, es war bestimmt ein Onkel des Fastnamensvetters, der gestorben ist, vielleicht der einzige mütterlicherseits, male ich mir aus, und der Brief wäre sicher von der Tante, und direkten Kontakt hatte die Familie schon lange keinen mehr zum Fastnamensvetter, nur dieses Schreiben hätte ihn über die Beerdigung informieren können, und sowieso hätte der Fastnamensvetter sich schon längst mit Onkel und Tante aussöhnen wollen, auf dass man die Sache mit seinem Ausraster damals vergessen möge, das sei ein dummer Fehler gewesen, den hätte sich mein Fastnamensvetter inzwischen auch eingestanden. Nun hätte er sich wenigstens bei der Tante noch entschuldigen können, bei Margit – ob man nicht Gras über die Sache wachsen lassen wolle; na sicher, hätte Margit gesagt, jetzt, wo Dieter tot ist, da müsse man auch mal ver­zeihen können, und sowieso hätten sie ihn ja immer als Erben in Betracht gezogen, hätte die traurige Tante dann entgegnet …

Kurz darauf werfe ich den Brief bei dem Fastnamensvetter ein. Irgendwie trauere ich mit ihm. Jens Uthoff