VERWERTBARKEIT Die Bremer Giftmörderin Gesche Gottfried ist eine romantische Figur – und wie alles Romantische heute für den Tourismus gut
: Mord, ein Rezeptionsphänomen

Das Unheimliche ist das Gegenteil des Bekannten und Gewohnten. So gezähmt aber ist es das Ziel desTouristen par excellence: Ein Anderes, dem gefahrlos und doch mit dem Schauder desFremden begegnet werden kann

von benno schirrmeister

Jede Stelle, jede Sehenswürdigkeit und jede Person, die das Etikett romantisch tragen kann, passt in die Verwertungslogik des Fremdenverkehrs. Das ist völlig okay: Die Romantik hat ja den Tourismus erfunden, sowohl den Begriff als auch die Praxis. Alle Romantiker setzen sich durch Reisen dem Anderen aus, und Stendhal, einer der bedeutendsten Romantiker überhaupt, nennt seine Autobiografie sogar Mémoires d’un touriste“: Zugleich lässt sich diese Wechselbeziehung zwischen Fremdenverkehr und Romantik als Hinweis darauf verstehen, warum TouristikerInnen sich auch für MörderInnen interessieren, wie in Bremen für Gesche Gottfried, die von 1813 bis 1828 dort und in Hannover 15 Menschen umgebracht hat.

Klar, TouristikerInnen bedienen sich keines fundierten Romantikbildes. Wenn sie ein Ranking der romantischsten Orte Bremens veröffentlichen, kann man wetten, dass ein Candlelight-Dinner im Ratskeller oder zweisames Paddeln durch die verschatteten Kanäle des Bürgerparks in den Top Ten auftauchen, ohne dass der Grund benannt würde, warum diese Orte romantisch heißen können: Nämlich, weil an ihnen Spuk, Wollust und Grausamkeit denkbar scheinen.

Als Nihilismus ist Romantik schon in ihrer Entstehungszeit diffamiert worden. Sie verneine „jede Bindung an die Norm“, hat der bedeutende Jurist Carl Schmitt treffend festgestellt – und wegen dieser prinzipiellen Abkehr von Recht und Rationalität hat der Denker des Führerprinzips sie gehasst. Romantik ist diejenige intellektuelle Bewegung, die ihre Produktivität entfaltet, indem sie ihre Wahrnehmung auf die Dämmerung und die Nachtseite der Existenz lenkt und das Dämonische aufsucht. „Es ist sonderbar, daß der eigentliche Grund der Grausamkeit Wollust ist“, schreibt der Oberromantiker Novalis 1799. Und er staunt, „daß nicht längst die Assoziation von Wollust, Religion und Grausamkeit die Menschen aufmerksam auf ihre innige Verwandtschaft und ihre gemeinschaftliche Tendenz gemacht hat“: Novalis war ein sehr religiöser Mensch.

In diesem epochalen Kontext sind nicht nur die Morde der Gesche Gottfried zu sehen, sondern auch ihre Rezeption: Die Größe und der genaue Hergang spielen dabei gerade nicht die Hauptrolle. Sicher, nie war in Deutschland zuvor eine vergleichbare Mordserie bekannt geworden, 15 Tote! Aber schon kurz nachdem die vermeintlich wohlanständige Schneiders­tochter an ihrem 44. Geburtstag, dem 6. März 1828, verhaftet wird, tritt die Zahl in den Hintergrund. Stattdessen wird auf die Täterin, die verbrecherische Frau geschaut. Sie ist das Thema. Sie ist die Sensation. Sie ist das zu enthüllende Geheimnis.

„Der Name Gottfried“, schreiben 1842 Wilibald Häring und Julius Hitzig in ihrer Kriminalfallsammlung „Der neue Pitaval“, „schwebte auf allen Zungen, bei jedem Gespräch, in jeder Gesellschaft war sie das Losungswort, und weit über das Weichbild der Stadt Bremen hinaus, in aller Welt wurden ihre Thaten mit Entsetzen erzählt, ihr Name mit Abscheu genannt.“ Und „ehe noch das volle Maß ersterer ermittelt war, hatte sich schon die Sage derselben bemeistert, und das Gerücht vervollständigte das Gräßliche“: So soll die Gottfried „ihre Kinder todt gekitzelt“ haben, deren Fleisch „zur Bereitung von Speisen benutzt“, zudem in einem Gewölbe „unnatürliche Greuel getrieben“ und so weiter. Selbst der eher rationalistische Johann Christian August Heinroth, der Begründer der Psychiatrie in Deutschland, benennt in seinem kriminalpsychologischen Essay 1833 die Giftreicherin als „frisches Beispiel“ eines Menschen, „der sich dem Bösen ganz ergeben hat“ und diagnostiziert an ihr von Leipzig aus „etwas Satanisches“. Und es war ja auch so: „ein satanisches Leben, ein Feuer der Hölle blitzte wie stachelnd“ bei der Hinrichtung „aus dem Augapfel hervor“, dafür gibt’s Zeugen. Die „tiefsten Fragen über das Element des Bösen berühren uns ganz nahe“, ahnt Heinroth. „Kein Mensch steht so sicher, daß er diesem Elemente nicht anheim fallen könnte.“

Das Böse fasziniert, weil wir es selbst sein könnten: Dieses ganz und gar nicht banale Rezeptionsmuster prägt auch die Anfänge der extrem früh einsetzenden Literarisierung: Kühn sagt Adelbert von Chamisso in dem herausragenden Gedicht „Die Giftmischerin“ ich – als sie. Am Vorabend des vierten Advent, am 19. 12. 1828 erscheint die Ballade bereits gedruckt im Mitternachtsblatt für die gebildeten Stände des Braunschweiger Vieweg-Verlags: „Dies hier der Block und dorten klafft die Gruft/ Laßt einmal noch mich atmen diese Luft/ Und meine Leichenrede selber halten“, antizipiert sie die Vollstreckung des Todesurteils: Lange bevor sie Mitte April 1831 hingerichtet wird, ist Gesche Gottfried hergerichtet – zur romantischen Figur. Dem entspricht, dass später ein Stein ins Pflaster am Dom eingelassen wird, auf den, in Gedenken an die Verbrecherin, zu spucken ist: Ein Post-mortem-Pranger, wie er in der frühen Neuzeit üblich war, und dessen Hang zur Ritualisierung von Strafe und Abscheu sich dem Zeitalter der industriellen Revolution widersetzt.

Chamissos Ballade überhöht sie zur Kämpferin, die „führte Krieg wie jeder thut und soll/[...]/ Nur besser“, und die alle Grundlagen von Gesellschaft kassiert: „Was will, was soll, was heißet denn das Recht?“ Stark und groß fühlt sie sich angesichts der stummen kalten Leichen ihrer drei Kinder, die sie „thränenlos“ betrachtet: Reueformeln fehlen. Und stattdessen spricht sie in der Schlussstrophe geradezu intim den Scharfrichter an: „Du, schlachte mich nun ab, es muß ja sein./ Ich blicke starr und fest vom Rabenstein/ Ins Nichts hinein.“ Es überrascht nicht, dass Friedrich Nietzsche ein großer Chamisso-Fan war: Mehrere seiner Gedichte hat er vertont. Und auch dieses imaginäre Einverständnis der Todeskandidatin greift er, gut 50 Jahre später, in „Also sprach Zarathustra“ wieder auf. „Vom bleichen Verbrecher“ schreibt der Philosoph, dass erst wenn der nickt, die Hinrichtung für „Henker und Opferer“ erträglich wird: Doch „aus seinem Auge redet die große Verachtung“, so Nietzsche. Vielleicht stammt der bleiche Verbrecher in Wirklichkeit aus Bremen und ist eine Frau.

Ins Nichts hinein: Tatsächlich lässt ihr Starren die Figur der Gesche Gottfried deutlich unheimlicher und abgründiger erscheinen, als Rainer Werner Fassbinder sie 1971 in seinem Antitheater-Stück „Bremer Freiheit“ gestaltet. Dass eine Frau ein Mensch und kein Haustier sei, lässt der sie darin sagen, weshalb sie dann die Leute ihres Umfelds ermordet: nicht nett. Aber eben doch zielgerichtet, rational: Film und Stück haben ihre Qualitäten. Aber diese Stilisierung gehorcht ebenso dem Wunsch, der Inkommensurabilität Herr zu werden, wie die Rekonstruktionen von Gottfrieds Taten als Folgen einer Psychose, die der Schriftsteller Peer Meteres vorgenommen hat. Ihr Unheimliches wird ideologisch gebändigt.

Das Unheimliche ist das Gegenteil des Bekannten und Gewohnten. So gezähmt aber ist es das Ziel des Touristen par excellence: Ein Anderes, dem gefahrlos und doch mit dem Schauder des Fremden begegnet werden kann. Also wird in Bremen zum Preis von zehn Euro pro Person im Rahmen einer Stadtführung, geleitet von einer Frau, die in der Montur der Mörderin auftritt, darüber informiert, dass Gottfried vermutlich verrückt war.