Beim Blick in die Baumkrone sieht der Kampf gegen den Kapitalismus durchaus malerisch aus Foto: LAUtonomia

Räuber und Gendarm

Protest Eine Gruppe von Baumbesetzern kämpft gegen den Braunkohleabbau. Es ist ein Spiel, das immer ernster wird

aus der Lausitz David Joram

Leonie hat sich verkalkuliert, selbst einer Mathe-Studentin kann so etwas offenbar passieren. Sie steht im „Tiergarten“, einem kleinen Waldstück in der Lausitz. Rund 160 Kilometer südöstlich von Berlin. Kleine Bäche, ein paar Sümpfe und vor allem zahllose Kiefern. Die Luft schmeckt rein – obwohl ganz in der Nähe ein richtig dreckiges Geschäft abgewickelt wird: Braunkohle-Tagebau. Vattenfall hat sich hier breit gemacht. Der Energiekonzern bleibt wohl nicht mehr lange, will aus Energiewendegründen verkaufen. Nur: das Ende des Tagebaus bedeutet das noch lange nicht. Einen vernünftigen – sprich: ertragreichen – Übergang fordern Wirtschaftsbosse. Auf einen sozialverträglichen – sprich: langsamen – Strukturwandel setzen Politiker. Und so ist weiter unklar, wann das Braunkohle-Zeitalter in der Lausitz tatsächlich beendet wird. Leonie ist in dieser Frage radikaler: „Natürlich sofort!“

Deshalb ist sie hier und steht für „LAUtonomia“ ein, jenes links-ökologische Bündnis, das drei Bäume im Tiergarten besetzt hält. Im Herbst soll dort für den Tagebau Nochten weiter gerodet werden.

Jetzt ist aber der aktive Widerstand erwacht und Vattenfall um ein Problem reicher. Im Kampf gegen den Energieriesen vertritt Lautonomia den radikalen Flügel. „Abschalten, jetzt!“ Das ist die Parole, die sonst niemand vertreten mag. Und die Aktivisten, meist Studierende zwischen 20 und 30 Jahren, die sich Kunstnamen wie Koile, Hummel oder Lupa verpassen, tragen den Konflikt direkt an der Front aus. Dass sie kaum mehr als Akzente setzen können, wissen sie selbst. Vielmehr gehe es darum, moderateren Initiativen eine bessere Verhandlungsbasis zu schaffen, den allgemeinen Diskurs in eine ökologischere Richtung zu verschieben.

Nun harren mindestens sechs Menschen auf der kleinen Lichtung aus – Tag und Nacht. Tagsüber wird die kleine Festung im Wald ausgebaut. Dann hauen die Aktivisten Nägel in Bretter, mit denen neue Plattformen in den Bäumen entstehen; sie planen ein Kompost-Klo aus Holzpaletten; oder sie spannen Traversen aus 14 Millimeter dicken Polypropylen-Seilen, um zwischen den Baumhäusern Verbindungswege anzulegen. Dies alles ist harte Arbeit. Nachts schlafen sie unter freiem Himmel, zwei Personen pro Baumhaus – auch bei klirrender Kälte.

Ihr eigentliches Leben haben sie mehr oder weniger aufgegeben. Einer, der noch ziemlich neu ist und sich „Pi“ nennt, sagt: „Ich studiere Philiosophie und Verkehrsingenieurwesen. Das ist aber ziemlich scheiße, lieber setze ich mich für was Sinnvolles ein.“ Sich für was Sinnvolles einsetzen. Das ist hier mehr als nur eine standardisierte Floskel. Die LAUtonomisten haben längst mit der konsensorientierten Welt abgeschlossen, dem Kapitalismus entsagt. Ihr Essen stammt aus Supermarkt-Abfällen; Tomaten, Quark, manchmal auch Knödeln. Was sich halt so an Essbarem findet, wird containert. Alles für die Sache.

„Wir sehen uns als antinational vernetzter, globaler Widerstand gegen die Verschmutzung des Klimas“, sagt Hummel. Im Weg will sie sein, gegen die herrschenden Verhältnisse in der Welt vorgehen. „Das ist anstrengend, gibt aber viel Kraft.“ Und mittlerweile haben sie bemerkt, dass das Radikal-Sein eine Gegenreaktion hervorruft, was sozusagen der beste Beweis dafür ist, dass ihr Protest wahrgenommen wird. Zwar lässt Vattenfall die LAUtonomisten im Wald noch gewähren, der Weg dorthin wird freilich von Sicherheitskräften kontrolliert. Sie sind die Gendarmen in diesem ernsten Spiel.

Schon beim Essenstransfer – private Freunde haben gekocht – beginnen die Probleme. Weil sich Leonie, eine der Räuberinnen, dieses Mal verkalkuliert hat.

Die Initiative: Bei LAUtonomia kann grundsätzlich jeder mitmachen. Als „offenes Projekt“ bezeichnet sich die Gruppe selbst. Die Forderungen entsprechen radikal-ökologischen Vorstellungen; so fordern die LAUtonomisten das sofortige Ende des Braunkohle-Tagebaus Nochten in der Lausitz.

Die Aktion: Die Waldbesetzer haben an drei Eichen Baumhäuser in 8 bis 10 Meter Höhe errichtet, wo nachts je zwei Personen übernachten. Weitere Unterstützer kümmern sich um die Versorgung mit Nahrungsmitteln oder Materialbeschaffung. Noch beschränkt sich der Protest auf die Waldbesetzung. Ziel ist es, die Braunkohle-Förderung aktiv zu blockieren.

Das Vorbild: Im Hambacher Forst (Nordrhein-Westfalen) wird der Energiekonzern RWE auf ähnliche Weise vom Bündnis „Ende Gelände“ bekämpft. Vom 13. bis 16. Mai plant Ende Gelände auch in der Lausitz einen groß angelegten Protest.

Auf der üblichen Fährte zu den Baumhäusern haben zwei Security-Mitarbeiter die 23-Jährige und ihren Begleiter entdeckt. Die grimmig dreinblickenden Aufpasser wurden von Vattenfall damit beauftragt, den Wald rund um das Braunkohlerevier abzusperren. Der Essenstransfer – Spirelli mit einer Pilz-Karotten-Soße soll’'s geben – ist in Gefahr.

Zwischen Leonie, Michael und den restlichen Waldbesetzern liegt eine 15 Meter breite Schneise, die direkt durch den Wald geht. Den kahlrasierten Streifen, der keinerlei Sichtschutz bietet, muss man möglichst schnell überqueren. Anschließend noch einen Wassergraben überspringen, erst dann lässt sich der Weg ins Innere des Waldes zu den Baumhäusern fortsetzen.

Man muss schnell sein; Leonie weiß das, ihr Begleiter auch. Doch mit einem großen Bottich voll heißer Spirelli fällt das Rennen schwer. Die Sicherheitsleute rücken schon an. Nur nicht erwischen lassen! Michael springt auf die andere Seite, dann wird der Bottich geworfen. Der Deckel bleibt glücklicherweise drauf; der Verschluss hält dicht. Der Freund eilt weiter. Leonie bleibt zurück. Den längst mit zwei Autos herbeigerasten Vattenfall-Menschen kann sie nicht mehr entkommen.

„Sofort runter vom Gelände!“, bellt der eine in bester Wachmeister-Manier. Was sie hier überhaupt suchen würde, fragt der andere. „Haben Sie die Schilder nicht gesehen?“ Die Schilder, genau. „Zutritt verboten, Lebensgefahr. Dieser Bereich wird videoüberwacht“, steht darauf. Sie sind noch ganz neu und wurden erst aufgestellt, nachdem LAUtonomia den Wald besetzte.

„In der ersten Woche war das noch eine ziemlich lockere Atmosphäre zwischen uns und den Secus“, wird später eine Aktivistin sagen. Secus, das sind die Wachschützer, die inzwischen rigoros durchgreifen.

Die Aktivisten haben längst mit der konsensorientierten Welt abgeschlossen, dem Kapitalismus entsagt

„Wo ist überhaupt dein Freund hin?“ Leonie kennt die nervigen Fragen schon, bevor sie gestellt sind. Sie weiß, dass sie nichts preisgeben muss. „Hab sonst niemanden gesehen, den ich kenne. Und ein kleiner Waldspaziergang wird wohl noch erlaubt sein“, sagt sie.

Derlei Aufsässigkeit wird nicht geduldet, der Ton verschärft sich. „Das ist Hausfriedensbruch. Wir brechen bei Ihnen auch nicht einfach so in den Garten ein.“ Leonie kontert: „Sie haben auch kein großes Loch im Garten wie das da hinten.“ Sie zeigt Richtung Wald, hinter dessen zahlreichen Kiefern die pure Einöde herrscht, kilometerweit. Der Sicherheitsmann sieht vor lauter Bäumen zwar den Wald, was mit „Loch“ gemeint ist, weiß er aber offensichtlich nicht. Auf die Schilder hinweisend, schickt er Leonie zurück. „Beim nächsten Mal gibt’s eine Anzeige.“

Vattenfall bestimmt darüber, wer den Wald betreten darf und wer nicht. Die Leute von LAUtonomia gehören nicht dazu. Eigentlich ist das den Aktivisten auch egal – schließlich richten sie sich längst auf Konfrontationen ein. Sie wollen die größten Räuber sein. „Respect existance or expect resistance. Wir bleiben alle“, haben sie in Grün und Gelb auf ein großflächiges Plakat geschrieben.

Der Kampf um den Tiergarten läuft. Wer auch immer das letzte Fleckchen roden will, wird Widerstand ernten.