Die Schönheit reinster Musik

THEATER DER MENSCHLICHKEIT Glucks „Orfeo ed Euridice“ in der Fassung von Flimm und Barenboim an der Staatsoper

Am Ende spielt nur die Flöte. Sie hat das letzte Wort. Der strahlende Schlussakkord ist verklungen, die Liebe hat gesiegt, sogar über den Tod. Aber der Vorhang fällt nicht. Hochdramatische Stille tritt ein: Totenstille. Dann beginnt die Flöte ihre Melodie. Es ist der „Reigen seliger Geister“, ein Klassiker schlechthin. Auch fortgeschrittene Laien des Instruments können das Solo für Querflöte und Streicher spielen. Eigentlich gehört es in den zweiten Akt, in die Unterwelt, wo es im Elysium, der antiken Idee des Paradieses, für die Toten erklingt, die am Ende aller Leiden ewige Ruhe gefunden haben.

Regisseur Jürgen Flimm hat es dort gestrichen, um es aufzubewahren für den Höhepunkt seines Theaters. So erst versteht man das Geheimnis dieser Melodie. Sie ist Klage ohne Trauer und Glück ohne Freude, sehr frei in weiten Bögen ausschwingend, mit schmerzlichen Halbtonschritten und Atempausen durchsetzt. Glucks „Orfeo ed Euridice“ gehört so sehr zum europäischen Bildungskanon, dass es unvernünftig ist, von einer neuen Inszenierung des Meisterwerks von 1762 Neues zu erwarten. Jürgen Flimms Regie jedoch bricht die Konvention auf und bringt ein Stück auf die Bühne, das tatsächlich neu ist. Es spielt heute, Florence von Gerkan hat das Personal in elegante Anzüge und Brautgewänder gesteckt und Euridices Leiche wird während der Ouvertüre ins Krematorium überführt.

Gehrys Sitzmöbel

Das Büro des Architekten Frank Gehry hat die Kulissen entworfen. Orpheus muss sich deshalb zwischen schiefen Glasmauern gegen Ku-Klux-Klan-Krieger ins Elysium durchsingen, wo ihn die seligen Geister auf knallbunt dekonstruktiven Gehry-Sitzmöbeln erwarten – mit Sonnenbrille und Gesangsbüchern in der Hand. Der dritte Akt zeigt Szenen einer Ehe auf dem Designerbett, aber Flimm kommt es nicht auf die Eleganz seiner Bühnenbilder an. Er inszeniert Glucks Musik, nicht Ovids Metamorphosen und was der Librettist Calzabigi daraus gemacht hat.

Er kann das, weil Daniel Barenboim diese Musik mit seiner Staatskapelle in kleiner Kammerbesetzung spielt und weil Bejun Mehta, Anna Prohaska und Nadine Sierra sie singen. Sie räumen alles ab, was sich an Hörgewohnheiten für die Musik des 18. Jahrhunderts inzwischen angesammelt hat. Es sind schlechte Gewohnheiten, nicht zuletzt die Gewohnheiten der sogenannten Alten Musik.

Nun verstört schon Barenboims Art, Wagner zu spielen, immer wieder sämtliche Wagnerianer, weil alles anders klingt, als sie erwarten. Jetzt klingt bei ihm auch der alte Gluck der Klassik vollkommen neu. Nichts mehr ist bloß historisch und vertraut. Bereits die Ouvertüre reißt die Tür auf zu einer Welt des individuellen Klangs, der in zuvor verschlossene Tiefen der Seele eindringt. Genau das war das Programm des Opernreformers Gluck, der die formalen Regeln der Gattung ersetzen wollte durch die Wahrheit des Ausdrucks menschlicher Gefühle.

Im Klagechor der ersten Szene klingt der Schmerz über den Tod der Geliebten so furchtbar, wie er wirklich ist. Bejun Mehtas Einwürfe des einen Namens „Euridice“ sind hilflose Versuche, Worte dafür zu finden, und rühren zu Tränen. Es gelingt ihm dann doch, zusammen mit Nadine Sierra als gewitztem Amor, die Legende fortzusetzen. In Mehtas überhellem, manchmal auch hartem Alt ist sie der Tagtraum eines liebenden Manns, der ihm die Geliebte zurückgibt.

Es bleibt ein Traum, nicht weil Orpheus Jupiters Verbot missachtet, sondern weil Liebe und Tod existenzielle Grunderfahrungen sind. Natürlich ist daran nichts neu, aber die Altmeister Flimm und Barenboim zeigen, wie Christoph Willibald Gluck beide in die Schönheit reinster Musik auflöst. Und dass es überhaupt eine Kunst gibt, in der das so glaubhaft und bewegend gelingt: Das ist dann doch neu. Niklaus Hablützel

Wieder am 23., 27. 3. und22. 6.