Bloß nicht über dem Großvater liegen

dokumentation In „Utbüxen kann keeneen – Weglaufen kann keiner“ zeigen Gisela Tuchtenhagen und Margot Neubert-Maric, wie die Leute in Norddeutschland mit dem Tod umgehen – und das auf Plattdeutsch

Hier kommt jeder an die Reihe: Trauernde auf dem Weg zum Urnengrab Foto: Friso Gentsch/dpa

von Wilfried Hippen

Auf der nordfriesischen Hallig Hooge war die Hebamme gleichzeitig „Dodenfru“ – Totenfrau: „Ik heff se op’e Welt hoolt un ik heff se ok betreut, wenn se vun’e Welt güngen. Un dat weer schön!“, erzählt die Bestatterin Anni Both. Es ist die einzige Aufnahme, die Gisela Tuchtenhagen hinter der Kamera und Margot Neubert-Maric am Mikrophon von ihr haben, denn Both starb 2014 noch vor den eigentlichen Dreharbeiten.

Und sie bleibt die einzige Tote, die in diesem Film über den Umgang mit dem Tod eine Rolle spielt, denn die beiden Filmemacherinnen interessiert, wie die Lebenden mit dem Tod umgehen. Deshalb sieht man in „Utbüxen kann keeneen“ auch keine einzige Leiche. Einmal wird eine in einem Sarg durchs Bild gefahren, und Gisela Tuchtenhagen war bei dieser Aufnahme so aufgeregt wie sonst selten, denn der Tote sollte auf keinen Fall ins Bild kommen.

In Nortmoor in Ostfriesland gibt es noch eine „Dodenbitterin“, die in einem Todesfall im Dorf alles Nötige organisiert: den Nachbarn Bescheid sagt, sich um die Trauerfeier, die Beerdigung und das Essen und Trinken dabei kümmert. Die Arbeit mache ihr Spaß, sagt sie – auf Plattdeutsch, und vielleicht klingt es deshalb überhaupt nicht makaber. In Dithmarschen und Woosmer in Mecklenburg-Vorpommern haben die Filmemacherinnen zwei Tischlermeister besucht, die nach alter Tradition auch als Bestatter des Ortes arbeiten.

Der eine kann seine Handwerker-Dynastie bis 1914 zurückverfolgen, der andere ist inzwischen 82 Jahre alt und erinnert sich noch an die Zeiten, als die Särge mit Pferd und Wagen zum Friedhof gefahren wurden. Beide haben Kinder, die, obwohl sie sich zuerst dagegen sträubten, die Familienbetriebe weiterführen. Doch diese jungen Leute sind nur nebenbei im Bild zu sehen und sagen auch nichts direkt in die Kamera, denn sie sprechen Hochdeutsch, und „Utbüxen kann keeneen“ ist, von wenigen Ausrutschern abgesehen, ein plattdeutscher Film.

In Mecklenburg-Vorpommern erzählt auch ein Küster davon, worauf man beim Ausheben eines Grabes achten muss, damit die Erde nicht nachgibt und den Grabenden selbst begräbt. Er habe vorher beim Tiefbau gearbeitet – „dat hier is ja ok Tiefbau“, witzelt Neubert-Maric aus dem Off.

Die FilmemacherInnen erlauben sich auch ein paar erhellende und unterhaltsame Abschweifungen, in denen sie zeigen, wie das gesellschaftliche Leben ihrer Protagonisten nach Feierabend aussieht. So trinkt die Totenbitterin viel Schnaps bei den regelmäßigen Treffen ihres Mütterkreises; in Dithmarschen wird Karneval gefeiert und der Kollege in Meckpomm geht mit seinen Freunden auf die Jagd oder zeigt den Filmemacherinnen die ehemaligen Grenzbefestigungen an der Elbe, deren Maschendrahtzaun für die Begrenzung des Ortsfriedhofs recycelt wurde.

Er selber hat sich seine Grabstelle schon ausgesucht, will aber nicht ins Familiengrab, weil er dort über seinem Vater und Großvater liegen würde. Er weiß, wovon er redet.

Auf der nordfriesischen Hallig Langeness zeigt ein ehemaliger Küster dagegen, wie dort jede Familie „ihre eigene Grube“ hatte, in der seit Generationen alle Familienmitglieder begraben wurden. So unaufgeregt und gelassen wie hier wird im Kino selten über den Tod geredet. Und dies hat auch mit dem Plattdeutschen zu tun, in dem es für Sentimentalitäten und Pathos schlicht keine Worte gibt.

Dies ist schon der dritte Film, den Gisela Tuchtenhagen und Margot Neubert-Maric gemeinsam und auf Platt drehen. Auch in „Der Wirt, die Kneipe, das Fest“ (dessen hochdeutscher Titel Gisela Tuchtenhagen heute noch ärgert) und „Bingo – Toletzt entscheed jümmers dat Glück“ warfen sie einen ebenso genauen wie liebevollen Blick auf die Sitten der Menschen auf dem norddeutschen Lande.

So unaufgeregt und gelassen wird im Kino selten über den Tod geredet

Die 1943 geborene Gisela Tuchtenhagen war eine der ersten Kamerafrauen in Deutschland. In den frühen 70er-Jahren wurde ihr noch davon abgeraten, in diesem Männerberuf zu arbeiten: Man(n) müsse in manchen Situationen im Freien pinkeln. Ihre Antwort war ein Artikel in der „Emma“ mit dem schönen Titel „Am Pissen soll’s nicht scheitern“.

Inzwischen ist sie auch als Regisseurin von Dokumentarfilmen eine Institution. So bekam sie zwei Adolf-Grimme-Preise in Gold: einen zusammen mit Klaus Wildenhahn für „Emden geht nach USA“, den anderen für ihre Dokumentation „Heimkinder“. Margot Neubert-Maric arbeitet seit 1986 als Cutterin. Co-Regisseurin war sie bis jetzt nur bei den drei Filmen zusammen mit Gisela Tuchtenhagen. Und die beiden ergänzen sich ideal. Auch weil Tuchtenhagen Plattdeutsch nur „so gut wie schlechtes Englisch“ spricht und sich so mehr auf die Kameraarbeit konzentriert, während Neubert-Maric hinter dem Mikrophon genau den richtigen Ton findet, um die Protagonisten zum snacken zu bringen.

Der Film bekam in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern Fördergelder und er wurde vom NDR eingekauft, was eher die Ausnahme als die Regel ist, denn für solche Formate gibt es in den dritten Programmen kaum noch Sendeplätze. Zudem dürfte er der letzte Film sein, den der NDR untertitelt und nicht mit einem Voiceover senden wird.

Dieses ist inzwischen auch bei Dokumentationen leider der Standard, weil in den Redaktionen die Meinung herrscht, man dürfe die Zuschauer nicht mit den Buchstaben auf dem Bildschirm überfordern. Doch ein Film auf Platt, das hochdeutsch übersprochen wird, wäre absurd. Speziell ist auch, dass „Utbüxen kann keeneen“ keinen Verleih hat und die beiden Filmemacherinnen, nachdem er in dieser Woche auf dem Filmfest Schleswig-Holstein gezeigt wird, mit ihm, wie Neubert-Maric sagt, „über das platte Land tingeln“ werden.

„Utbüxen kann keeneen“ läuft am Samstag um 16.30 Uhr auf dem Filmfest Schleswig-Holstein