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Das Wunder von Fröttmaning

Champions League Zum Ende von Pep Guardiolas Amtszeit gelingt dem FC Bayern tatsächlich noch ein Erfolgsfußball, der mitreißt. Wie München den Zwei-Tore-Rückstand gegen Juventus Turin gedreht hat, ist in der jüngeren Geschichte des Vereins ohne Beispiel

Fußball auf den Kopf gestellt: Bayerns Douglas Costa dreht Juve um Foto: Rehle/reuters

aus München Thomas Becker

Auf dem Bolzplatz lief das früher so: „Okay, ihr seid einer mehr, wir kriegen 2:0 Vorsprung. Bis fünf.“ Damit es halt schön spannend wird. Genauso sollten künftig auch Spiele des FC Bayern verhandelt werden: Gegner taxieren, Spielstand festlegen und los! Natürlich immer im K.-o.-System, damit sich die Herren keinen Ausrutscher erlauben können. Was wären das für Partien! Werder Bremen würde mit einem satten 4:0 ins Spiel gehen – ein Vorsprung, den Hannover 96 schon zur Halbzeit aufgebraucht hätte. Die Bayern-Cracks müssten in jedem Spiel an ihre Grenze gehen, ihr ganzes Können zeigen, und Pep Guar­dio­la müsste am Rand auch nicht so doll mit den Armen wedeln – die Profis wüssten dann schon, was die Stunde schlägt.

Auch die Älteren im Stadion konnten sich nicht erinnern, abgesehen von dem ein oder anderen Effenberg-Moment Anno Domini 2001, je eine willensstärkere Bayern-Mannschaft erlebt zu haben als in der Schlussviertelstunde des Champions-League-Achtelfinales gegen Juventus Turin. Douglas Costa hatte geflankt, Robert Lewandowski per Kopf getroffen, und was dann geschah, hatte man in diesem Stadion noch nicht erlebt: Ein regelrechter Adrenalin-Tsunami schwappte durch die Arena, jenes so selten von Herzblut durchpulste Bayern-Heim, in dem es ja stets nur eine Frage der Zeit ist, bis der nächste Sieg mal wieder feststeht. Die Niederlagen gegen Barça und Real in den vergangenen Jahren waren so deutlich – da gab es erst gar nichts zu bangen. Jetzt schon.

Dieses Juve-Spiel: war doch im Kopf schon abgehakt. Den Champions-League-Finalisten von 2015, den alten und neuen italienischen Meister, den hatte man im Hinspiel doch dominiert. Gut, die zwei Gegentore hätte es nicht mehr gebraucht – „aber hey: Wir sind der FC Bayern!“

Eine gewisse Hybris war vor der Partie zu spüren. Im Spiel war die dann schnell weg: Nach einem absolut nicht königsklassenadäquaten Missverständnis zwischen Manuel Neuer und David Alaba und einem absolut königsklassenadäquaten Gäste-Konter stand es 0:2 – nach 28 Minuten. Das Projekt Pep? In diesem Moment mausetot.

Während die Bayern samt Ball Gianluigi Buffon bloß einmal nahe kamen, tauchte Juve zu Beginn der zweiten Halbzeit beinahe im Minutentakt vor Manuel Neuer auf. 1:6 wäre ein angemessener Spielstand gewesen. Demütigend auch die Defensivkraft der Gäste, die entweder in bester BVB-Manier pressten oder sich zu elft in den letzten 30 Metern der Spielhälfte verschanzten. Und Armwedler Pep? Vergrub die Hände immer öfter in den Hosentaschen. So sieht Ratlosigkeit aus.

„Vier Tore gegen eine italienische Mannschaft. Wow“

Pep Guardiola

Was bloß brachte diese Partie doch noch zum Kippen? Womöglich Gästecoach Massimi­lia­no Allegri. Der nahm in Minute 68 den bis dahin überragend aufspielenden, extrem giftigen Sami Khedira aus dem Spiel und vier Minuten später auch noch den allzeit brandgefährlichen Alvaro Morata – merkwürdige Wechsel. Ob Lewandowski deshalb in der 73. Minute traf? Egal, jedenfalls setzte in diesem Moment der besagte Adrenalin-Tsunami ein, der die Roten wie Derwische der Kugel hinterherjagen ließ. Vorneweg: Arturo Vidal. Doch es fehlte noch ein Treffer. An der Seitenlinie sprintete sich Thiago warm, wohl eine halbe Stunde lang. Doch kein Zeichen von Pep. Thiago sprintete weiter – und in der 93. Minute im Trainingsanzug quer übers Spielfeld, zu Thomas Müller, dem Torschützen des erlösenden 2:2, das die Ära Pep noch mal verlängerte. Bayern-Boss Karl-Heinz Rummenigge sprach später von einem „Herzfrequenzspiel“. Der gute Mann ist mittlerweile auch schon 60.

Nächstes Highlight: Guardiolas intensive Ansprache vor der Verlängerung. Beckenbauer mutmaßte, Pep habe den Spielern klargemacht, dass er sie kastrieren werde, wenn sie nicht gewinnen. Thomas Müller stimmte später im Scherz zu: „Er hat gesagt, er schneidet uns die Eier ab.“ Guardiola meinte nur: „Mein Deutsch ist nicht gut, sie verstehen mich nicht. Nein, wir haben darüber gesprochen, dass wir kein Tor mehr bekommen dürfen, weil die sonst weiter sind.“ Müde und erschöpft wirkte er – und ein wenig ungläubig: „Ich brauche zwei, drei Tage, um zu begreifen, dass wir vier Tore gegen eine italienische Mannschaft geschossen haben. Das ist nicht einfach – wow! Aber wir sind im Viertelfinale.“

Dank der späten Treffer von Thiago, der sieben Minuten nach seiner Einwechslung traf, und Coman, der endlich Platz zum Spurten hatte. Viertelfinale also. Ob Guardiola dort schon gegen Manchester City spielen wolle oder lieber erst im Finale? Darauf wollte er dann doch nicht antworten und erzählte lieber irgendetwas vom Köln-Spiel am Samstag. Hä? Köln? Hat der seinen Adrenalinpegel schon wieder auf null? Wie meinte der Stadionsprecher, als dieses so besondere, so wunderbare Fußballspiel vorbei war? „Versuchen Sie trotzdem irgendwie zu schlafen.“ Hat nicht so geklappt. Egal, das war es wert.

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