Die neue Bürgerlichkeit

Die erste Reaktion der CDU auf die Wahlniederlage ist – neben der Abkehr von Merkels Liberalismus – eine neue Patriotismusdebatte. Diesmal könnte sie Wirkung entfalten

Die Union kann auf neu erwachte Sehnsüchte einer liberalkonservativen Publizistik reagieren

Die Verhandlungen zur großen Koalition haben kaum begonnen, da scheint eines klar: Von Angela Merkels wirtschaftsliberalem Regierungsprogramm, von Steuerplänen und dem neuen Aufbruch wird wenig übrig bleiben. Die Junge Union, die Sozialausschüsse, aber auch Landespolitiker wie Christoph Böhr drängen auf eine kritische Analyse des bescheidenen Ergebnisses vom 18. September. Sie wollen Merkels Reformkurs sozial und emotional abfedern. Schröders Schlussspurt hat ihnen gezeigt, dass es in Wahlkämpfen hauptsächlich um Wohlfühlprogramme geht und dass das Gerede von der schwersten deutschen Krise seit den Trümmerjahren kaum mobilisierend wirkt.

Lange vorbei ist die Zeit, als Edmund Stoiber Seite an Seite mit dem Kanzlerkandidaten Franz Josef Strauß gegen den „Sozialklimbim“ der Unionsschwester wetterte. Nun scheint sich der Bayer als letzter Hüter des Sozialkonservatismus und der staatlichen Industriepolitik gleichermaßen profilieren zu wollen. Sowohl die Berufung Seehofers als auch die übertrieben zur Schau gestellte Harmonie mit dem designierten Vizekanzler Müntefering sollen seinen nie aufgegebenen Führungsanspruch befestigen.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass er immer noch auf ein Scheitern Merkels und auf die eigene Kanzlerschaft hofft. Dabei scheint er erst spät zu realisieren, wie prekär seine Situation in Wahrheit ist. In Bayern laufen ihm die Dinge aus dem Ruder, und in Berlin wird Stoiber beileibe nicht so viel Freude an der eigens für ihn geschaffenen Lizenz zum Geldausgeben in Wirtschaft und Forschung haben wie gedacht, zumal er zum Amüsement der Republik erst einmal über die Richtlinienkompetenz der Bundeskanzlerin aufgeklärt werden musste.

Der Mythos der großen Koalition von 1966 ist in diesen Tagen stets präsent. Vielleicht auch um den Vergleich mit der Übergangsfigur Kurt Kiesinger zu bannen, hat Angela Merkel in ihrer nüchternen Art alle Parallelen sofort beiseite gewischt. Die künftige große Koalition muss in der Tat einiges von dem rückgängig machen, was die damalige geschaffen hat: den Kompetenzwirrwarr der „Gemeinschaftsaufgaben“ von Bund und Ländern, aber vor allem die Aufblähung eines Wohlfahrtsstaats, der, anders als vor vier Jahrzehnten, nichts mehr zu verteilen hat. Ein Vorwurf, den die Neue Linke in den Sechzigern gegen das Establishment der koalierenden Volksparteien erhob, hat sich allerdings erhalten. Schon damals kritisierte man den Technokratismus der Funktionseliten, die sich auf die Segnungen sozialtechnischer Planung für die Gesellschaft verließen, statt auf das politische Engagement des Bürgers zu setzen oder zur Stärkung von Solidarität und Gemeinschaft beizutragen. Trotz umgekehrter Richtung, nämlich „Rückbau“ des Staates, sieht sich Merkel seit dem Wahlkampf mit ähnlicher Kritik konfrontiert. Soziale Kälte, Ökonomismus und das Fehlen von Leitwerten fallen umso schwerer ins Gewicht, wenn keine großzügige „distributive Pazifizierung“ (Claus Offe, 1970) seitens des Staats mehr möglich ist, sondern rein rational auf die Neujustierung der staatlichen Stellschrauben vertraut wird, diesmal im Zeichen liberaler Ökonomisierung.

Das Image einer kalkulierenden Technokratin lastet wohl als schwerste Hypothek des misslungenen Wahlkampfs auf Angela Merkel. Wenn sie eine Chance haben will, im Kanzleramt zu bestehen und den Rückhalt ihrer Partei zu erhalten, dann muss es ihr gelingen, aus der September-Niederlage Lehren zu ziehen, ohne eine innerparteiliche Debatte über die Gründe zuzulassen. Keine leichte Aufgabe. Aber die Lernfähigkeit der Parteichefin ist keineswegs zu unterschätzen.

Mit dem wachsenden Selbstbewusstsein einer Kanzlerin scheint Merkel erste programmatische Korrekturen zuzulassen, ja zu ermutigen. Nicht zufällig sprechen Bundestagspräsident Lammert, Karl-Josef Laumann und die sächsischen Parteifreunde in diesen Tagen wieder von Leitkultur und Patriotismus. Damit wärmen sie Stichworte auf, die schon manches Mal als Strohfeuer die Suche nach einem programmatischen Profil der Union zu erhellen suchten. Merkels Intimfeind Friedrich Merz hatte bereits vor fünf Jahren im Sinn, eine bürgerlich-konservative Wählerschaft gegen die Vorherrschaft eines vermeintlich multikulturellen Gesellschaftsprojekts der Achtundsechziger zu mobilisieren. Aber Leitkultur und Patriotismus blieben hohle Phrasen, solange sie nur die Angst vor dem Fremden artikulierten und sprachlich-kulturelle Anpassung der ausländischen Mitbürger einforderten. Über die Werte dieser patriotischen Leitkultur wurde wenig mitgeteilt.

Gesellschaftlich hinkte die CDU dem Bewusstsein der Bürger schon damals hinterher. Mit Ausnahme von Roland Kochs legendärer Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft vermochten nationale Selbstbehauptungsparolen niemals besondere Wirkung zu entfalten – auch weil Innenminister Schily rechts von sich die Räume immer enger machte. Die neuerlichen Impulse für eine Patriotismusdebatte zielen also in eine andere Richtung. Sie treffen auf eine veränderte intellektuelle Landschaft. Die Union kann – wenn auch spät – auf die neu erwachten Sehnsüchte einer liberalkonservativen Publizistik reagieren, die seit einiger Zeit lautstark für die Renaissance des Bürgerlichen wirbt und mit Udo Di Fabio ihren konservativen Shootingstar feiert.

„Sozialtechnologie löst keine Identitätsfragen“, schreibt dieser und entwirft flugs ein Gemeinschaftsprogramm, das sich ganz unbekümmert aus den sozialphilosophischen Werkstätten der Moderne bedient. Heimat, Familie und Gemeinschaft werden von diesem neuen Konservatismus ohne Skrupel mit klassisch liberalen und republikanischen Idealen verbunden. Mehr als die Abgrenzung nach außen interessiert jüngere Konservative nun die positive, kulturell grundierte Gemeinschaftsbildung innerhalb der Zivilgesellschaft. Man hätte in der CDU schon früher auf die Idee kommen können, die Bürgergesellschaft erst einmal stark zu reden, bevor man sie zu größerer Eigenverantwortung animiert. Es wird die Union einige Mühe kosten, ihre ideenpolitischen Defizite der letzten beiden Jahrzehnte zu kompensieren.

Lang ist’s her, dass Stoiber gemeinsam mit Strauß gegen den „Sozialklimbim“ der CDU wetterte

Andererseits hat sie kaum eine andere Wahl, als sich in einer großen Koalition, die geringe Profilierungs- und Handlungsspielräume lassen wird, kulturell von der Sozialdemokratie abzusetzen. Sie wird den Rückgriff auf bürgerliche Werte nicht nur zur Integration und Mobilisierung der eigenen Mitglieder benötigen. Sie muss in einer Regierung, deren Wirken den Bürgern als ein endloser Verhandlungsprozess vorkommen wird, daran interessiert sein, sich über „weiche“ identitätspolitische Themen und den Repräsentationsvorteil der Kanzlerin von der Wahlmisere zu befreien. Da die SPD konzeptionell bestimmt nicht stärker aufgestellt ist, scheint die Ausgangslage für die CDU gar nicht so ungünstig.

JENS HACKE