Verwaltung der Unsterblichkeit

KUNSTARCHIV Im Kunstverein zeigt der Konzeptkünstler Joseph Grigely seine Auseinandersetzung mit dem Nachlass des Kunstkritikers Gregory Battcock: als intellektuelles Spiel und Hommage an das analoge Archiv

Künstlerischer Umgang mit verschiedenen Deutungsweisen: Was hat es mit den verschämt schwulen Postkarten auf sich?   Foto: Fred Dott

von Hajo Schiff

Außer für Antiquariate ist der Nachlass eines New Yorker Kunstkritikers nicht von großem Interesse. Wenn aber ausgerechnet ein Konzeptkünstler wie Joseph Grigely aus Chicago in einem Lagerhaus in Jersey City fündig wird und dann mit dem Material arbeitet, wird es nicht nur aktualisiert, sondern sogar Kunst. Und so wird jetzt eine Auswahl der verstreuten Hinterlassenschaften von Gregory Battcock in sieben Vitrinen im Hamburger Kunstverein präsentiert. Doch hilft das, zu verstehen, wer Gregory Battcock war? Und wozu soll das überhaupt gut sein?

1937 wurde Gregory Battcock in New York geboren – und 1980 in Puerto Rico mit 102 Messerstichen von Unbekannten ermordet. Der Kunstkritiker schrieb über Minimal Art und Performance, die jungen Videokünste und Konzeptkunst. Früher selbst ein eher schlechter Maler – es ist an einem mitausgestelltem Bild zu sehen – wirkte er auch in Filmen von Andy Warhol mit.

All das lässt sich schnell digital herausfinden. Die kleine Foyer-Ausstellung aber ist eine Hommage an das analoge Archiv. Und sie ist – ähnlich der konzeptuellen Ausstellung „Fluidity“, die derzeit im ersten Stock zu sehen ist – ein intellektuelles Spiel. Zwar sind hier eben Dokumente eines New Yorker Kunstkritikers ausgestellt, wie auf den Fluren einer Bibliothek, aber das wäre ja nicht genug.

Und es ist tatsächlich komplexer: Es ist genau das – und im Kunsttext zugleich eine Reflexion über das, was es zu sein scheint. Das beginnt mit der subjektiven Auswahl, der Art des Arrangements und der Wahl der in verschiedenen edlen Hölzern gefassten, unterschiedlich hohen Vitrinen.

Der schon in seiner Jugend ertaubte Künstler Joseph Grigely überführt das stets bestehende Kunstgeschwätz in den stummen Dialog der Hinterlassenschaften in seinen Vitrinen: Was hat es mit den verschämt schwulen Postkarten auf sich? Sind die expliziten Textpassagen literarischer Natur oder ein sexuelles Tagebuch? Dient das Schiffsmodell der Veranschaulichung einer Reise, war es ein Souvenir oder ein Flohmarkt-Fund?

Joseph Grigely ist geradezu besessen von Archiven. Der durchaus institutionskritische Künstler hat auch die Zettel gesammelt und mehrfach ausgestellt, mit denen andere Menschen notgedrungen mit ihm kommunizierten. Außerdem verwaltet und gestaltet er das Archiv von Hans-Ulrich Obrist. Der berühmte, fast künstlerisch arbeitende Kurator schickt seit Jahren regelmäßig Publikationen und Memorabilien an den mit Materialien kuratorisch arbeitenden Künstler.

Ein künstlerischer Umgang mit den verschiedenen Deutungen der Hinterlassenschaften eines Lebens kommt zwangsläufig an einen extremen Punkt: die Frage, ob die hier präsentierte Person überhaupt wirklich gelebt hat. Spätestens seit den 1970er-Jahren gibt es in der Kunst ja Sammlungen und Sammlungsfiktionen, sei es Marcel Broodthaers kapriziös und institutionskritisch zusammengestelltes Adlermuseum oder seien es Robert Kusmirowskis komplett gefakte Bibliotheken.

Grigely überführt das Kunstgeschwätz in den stummen Dialog des Hinterlassenen in den Vitrinen

Doch Gregory Battock lässt sich auch außerhalb der Kunst in seriösen amerikanischen Quellen auffinden. Andererseits, auch Internet-Dateien können manipuliert werden. Sind digitale Quellen glaubhafter als unleserlich handgeschriebene Postkarten und vor Manipulation ebenfalls nicht sichere Fotos? Es liegt in der Natur der Arbeit mit Möglichkeiten, dass entweder stets neue Geschichten entstehen oder aber man geneigt ist, rein gar nichts mehr zu glauben.

So oder so wird im „Gregory Battcock Archiv“ der Geist der New Yorker Kunstszene in den 1970er-Jahren erfolgreich beschworen. Vielleicht ist Kunstkritik sowieso eine fiktionale Erzählung, vielleicht muss Kritik von Anti-Kunst entsprechend Anti-Kritik sein – also Kunst.

Die Beschäftigung mit dem von Grigely inszenierten Battcock führt zu Fragen, inwieweit die Kritiker als Teil des Kunstsystems weit mehr als Betrachter sind, wie stark sie sich stilisieren und inszenieren und wie weitgehend sie nicht nur Erfolg mitbestimmen, sondern Trends und Werke selbst mit erschaffen.

Es sei also hier klar festgestellt: Diese kleine, aber vielschichtige Etüde zur archivarischen Verwaltung der Unsterblichkeit in der Kunst kann durchaus faszinieren.

„Joseph Grigely – The Gregory Battcock Archive“: Kunstverein in Hamburg, Klosterwall 23, Di–So 12–18 Uhr. Bis 5. Juni. www.kunstverein.de