: Das Jahr der großen Lösungen
SO WIRD 2013 GEWESEN SEIN Findet jedes Kind seinen Kita-Platz? Wie bewährt sich Thomas Eichhin bei Werder? Und was macht eigentlich Joachim Lohse? Im vorauseilenden Jahresrückblick gibt taz bremen schon Antworten auf die drängenden Fragen von 2013
VON JEAN-PHILIPP BAECK, BENNO SCHIRRMEISTER UND JAN ZIER
1. 1. Im frisch vom Verein für Alltagskultur und politische Bildung erworbenen Paradox im Viertel beginnt gegen 0.17 Uhr die wildeste Silvesterparty der Stadt zu entgleiten, mit der die Szene zugleich den Hauskauf feiert: Außer zahllosen Böllern werden versehentlich mehrere Molotow-Cocktails entzündet. Die um 0.55 Uhr nach langer intensiver Diskussion gerufene, um 1.05 Uhr eingetroffene Feuerwehr entschließt sich nach kurzer Begutachtung, die Immobilie so kontrolliert wie möglich bis aufs Fundament abbrennen zu lassen. „So hatten wir uns das eigentlich nicht vorgestellt“, informiert das Hausplenum auf einer geeinten Pressemitteilung vier Tage später. Der Spendenaufruf bleibe allerdings bestehen, „auch weil die Versicherungsfrage nicht ganz geklärt war.“
20.1. Die Niedersachsen-Wahl endet mit einer faustdicken Überraschung: Im Endspurt haben Die Grünen die SPD überholt. Trotz Wiedereinzugs der FDP in den Landtag kommt ein grün-rotes Bündnis zu einer knappen Mehrheit. Nach nur zehntätigen Koalitionsverhandlungen präsentiert der designierte Ministerpräsident Stefan Wenzel das neue Landeskabinett.
31.1. Einer Serie von Brandanschlägen auf Großställe wird vom Staatsschutz als Reaktion auf die Berufung von Christian Meyer (Grüne) ins Amt des niedersächsischen Agrarministers gewertet. Tatsächlich tauchen Bekennerschreiben von den bis dahin unbekannten Untergrundorganisationen Landvolkssturm, Rothkötters Armee Fraktion und Wiesenhofsportgruppe Lohmann auf. „Wir sind alarmiert“, informiert der designierte Innenminister Dietmar Schilff. „Das ganze wirkt wie eine konzertierte Aktion – von Menschen die problemlos Zugang zu den Anlagen haben.“ In einer gemeinsamen Pressemitteilung weisen das Landvolk Niedersachsen sowie die Unternehmensgruppen Lohmann und Rothkötter jede Beteiligung an diesen Anschlägen zurück, „auch wenn wir die Berufung von Meyer für kritikwürdig halten und sich keiner wundern muss, wenn da ein paar Leuten die Galle hochkommt“.
8.2. Pünktlich zum vierten Rückrundenspieltag präsentiert der Aufsichtsratsvorsitzende von Werder Bremen, Willi Lemke, Renate Jürgens-Pieper (SPD) als neue Geschäftsführerin Profifußball. In der Woche zuvor hatten nach der dritten Niederlage in Folge der Ende Dezember als Allofs-Nachfolger verpflichtete Thomas Eichin das Handtuch geworfen. „Auch eine zweite Wahl kann die beste sein“, führt sich Jürgens-Pieper betont kämpferisch ins Amt ein. Tatsächlich fegen tags drauf die Bremer Fußballer Stuttgart mit 8:0 Toren vom Platz. Die 50 mitgereisten Fans feiern den Sieg mit Re-na-te, Granate-Rufen.
12.2. Verkehrs- und Umweltsenator Joachim Lohse (Grüne) kündigt an, die Tramverlängerung von Huchting nach Bremerhaven einzuleiten. Aufgrund guter Erfahrungen mit Beteiligungsverfahren soll am 30. April ein Hearing in Huchting darüber entscheiden, ob die Tram in Huchting vier Haltestellen haben soll, oder es dort nur zwei Stopps geben soll, was die Fahrtzeit nach Bremerhaven verkürzen würde. Allerdings müssten bei der zweiten Option zwei bis dahin bereits fertiggestellte Haltestellen wieder rückgebaut und die Kosten dafür auf die Anliegerhaushalte umgelegt werden.
7.3. Auf Nachfrage der Sozialdeputierten erklärt Senatorin Anja Stahmann (Grüne), dass „jedes Kind in Bremen einen Betreuungsplatz bekommt, auch wenn uns bislang noch nicht klar ist, wie viele wir benötigen, und ob das am Ende alles Kita-Plätze sind.“ Im Juli werde es darüber hoffentlich Gewissheit geben. Der Ex-Grüne und jetzige SPD-Mann Klaus Möhle ruft zu einem öffentlichen Schätzwettbewerb aus, wieviele U-3-Plätze am 1.8. fehlen. Dem Gewinner winke ein Gutschein für eine Ü30-Party.
14.3. Beim Listenparteitag überwältigt Unsicherheit die Bremer CDU, ob sie nun ohne Mitgliederbefragung eine Spitzenkandidatin küren darf. Der Vorstand beschließt daher, Motschmann nur fürs Direktmandat zu nominieren und Listenplatz eins vakant zu lassen. Auf Platz zwei tritt Michael Teiser an. „Das ist nicht ideal“, bedauert der Landesvorsitzende Jörg Kastendiek. „Aber wir haben das Erbe von Rita Mohr-Lüllmann nun mal zu tragen.“
18.4. Hans-Joachim von Wachter stellt den neuen Bremer Verfassungsschutzbericht vor. „Besorgt hat uns die wachsende Brutalität im Bereich der Agro-Militanz rund um Bremen“, teilt der Geheimdienst-Chef mit. Unter Beobachtung habe man deshalb auch den Sportverein Werder Bremen stellen müssen, „der mit gewaltbereiten Organisationen aus diesem Spektrum kooperiert“, so von Wachter, „die offenkundig unter dem Deckmantel des Artikel 12 aggressiv und kämpferisch gegen die Verfassungs-Grundsätze der Menschenwürde und das Staatsziel Tierschutz“ vorginge.
23.4. Karoline Linnert (Grüne) und Jens Böhrnsen (SPD) geben Eckpfeiler des neuen „Sparen durch Investitionen-Programms“ des Senats vor, das neuen volkswirtschaftlichen Ansätzen verpflichtet sei. „Uns wird im vorgeworfen, ihr macht nur Kleinklein“, so Linnert. „Das ist mal eine Großlösung“. Neben dem Offshore-Terminal und der neuen Tramtrasse werde Bremen auch eine eigene Reederei aufbauen. Durch die Finanzierung des Paradox-Neubaus sichere man sich den „Zugriff auf die Gestaltung des Gesichts zentraler Stadtteile“. Zudem werde der erste Spatenstich für die „neue neue Weserburg spätestens 2014“ erfolgen. Wahrzeichenqualität wie dieses solle auch eine neue Statue auf dem Marktplatz haben: In Absprache mit der Gleichstellungsbeauftragten habe man die Anregung von Bürgerschaftspräsident Christian Weber (SPD) für mehr Qualität in Bremens guter Stube zu sorgen, aufgegriffen, erklärt Böhrnsen: „Dem Roland wird kein geringerer als Ai Weiwei eine diesen leicht überragende Carolina Magna-Statue an die Seite stellen.“ Finanziert werde das durch die Gehaltserhöhung, die Bundeskanzler in spe Per Steinbrück im Falle einer Wahl durchzusetzen und Bremen zu spenden versprochen hat, informiert Böhrnsen. „Wir hatten keine Lust mehr, nur die Bösen zu sein, die allen immer das Spielzeug wegnehmen“, so Linnert.
24.4. Der Verein für Alltagskultur und poltische Bildung weist staatliche Beteiligung am Paradox „entschieden zurück“.
30.4. Beim Straßenbahn-Hearing von Huchting kommt es zu allgemeiner Verwirrung über finanziellen Konsequenzen der Zwei-Haltestellen-Option, die auch Senatoren-Sprecherin Brigitte Köhnlein nicht aufklären kann. Erst nach Ende der Veranstaltung fällt auf, dass Senator Lohse gar nicht zum Termin im Bürger- und Sozialzentrum erschienen ist. Köhnlein teilt mit, keine Ahnung über seinen Verbleib zu haben. „Vielleicht weiß der Herr Hinrichs vom Weser-Kurier Bescheid“, rät sie den zum Termin erschienenen Journalisten von Radio Bremen, taz und Weser-Report. „Rufen Sie den doch mal an.“
3.5. Still und leise hat der Senat Bremens große Gemeindestrukturreform eingeleitet: Als den Führer des neu geschaffenen Groß-Orts Bremennord stellt Jens Böhrnsen den bisherigen Ortsamtsleiter Peter Nowack (SPD) vor. Der kündigt an, die neuen Befugnisse, mit denen er Menschen in einem Maß helfen könne, wie es innerhalb der Enge rechtsstaatlicher Kleingeisterei unmöglich wäre, voll auszuschöpfen. Als sichtbares Zeichen verteilt er deshalb an alle Neu-Bremennorder Zuckerbrote, sofern diese beim persönlichen Vorstellungsgespräch ihre soziale Reife bewiesen haben
18.5. Leider haben sich die Werder-Kicker im Bundesliga-Endspurt nur auf den 17. Platz vorarbeiten können. „Wenigstens steigt Braunschweig auf“, spendet Jürgens-Pieper Trost. Gleichzeitig kündigt sie an, die Abgänge im Profi-Kader aus Kostengründen nicht kompensieren zu können und diesen daher auf neun Spieler ausdünnen zu müssen. „Das sind die Vorgaben, die ich von Willi Lemke bekomme“, so Jürgens-Pieper.
26.6. Großortsführer Nowack weist Vorwürfe, in Blumenthal würde gefoltert, zurück. Zwar sei man in Ermangelung von Zuckerbrotvorräten dazu übergegangen, nurmehr Fehlverhalten zu sanktionieren, aber auch Folter sei nach seiner festen Überzeugung strafwürdig: „Folter und der Vorwurf, wir würden foltern werden bei uns daher mit Peitschenhiebe bis zur Abbitte bestraft.“ Das gelte im ganzen Großort.
1. 8. Sozialsenatorin Anja Stahmann stellt die Bilanz ihrer Ferien-Rundreise durch im Bau befindliche Bremer Kitas vor: „Sie sind alle sehr schön“, so Stahmann. „Nur die Frage, wie viele Plätze fehlen, konnte ich dadurch noch nicht klären“, sagt sie. Eine aus 25 ehemaligen Schlecker-Mitarbeiterinnen gebildete Task-Force werde sich jedoch umgehend daran machen, die Zahlen zusammenzuziehen. „Wer so lange nicht warten will, weil das Kind schon geboren wurde, hat mein Verständnis“, so Stahmann. „Ich empfehle so lange, auf die so genannte Herdprämie zurückzugreifen, die seit Januar an alle Daheimbeteuenden gezahlt wird.“
22.9. Die Bundestagswahl endet aus Sicht der Bremer CDU mit einem Debakel. Erstmals hat sie unter 2.000 Stimmen erhalten und somit auch über die Landesliste kein Mandat errungen. „Rita Mohr-Lüllmanns Wirken hinterlässt halt seine Spuren“, so die schonungslose Analyse von Parteichef Jörg Kastendiek.
1.10. Anja Stahmann gibt bekannt, dass Bremen Kita-Plätze rückbauen muss: Die Task-Force hat ermittelt, dass Staatsrat Horst Frehe (Grüne) versehentlich ein Komma nach rechts verschoben hat, sodass zehnmal so viele Plätze zur Verfügung stehen, wie Kinder im einschlägigen Alter in Bremen leben. Um die Mehrkosten auszugleichen versuche man derzeit Hamburger Dreijährige zum Pendeln zu bewegen.
2.10. Kristina Schröder (CDU), Familienministerin auch der neuen schwarz-grünen Koalition in Berlin, fordert umgehend Rückzahlungen: „Wenn Bremen mehr Plätze gebaut hat, als es braucht, hat es dafür auch mehr Geld bekommen, als es durfte“, sagt sie. Das müsse erstattet werden: „ Solidarität ist schließlich keine Einbahnstraße!“
14.11. Die Bremer CDU meldet Insolvenz an. Grund seien nicht die schlechten Wahlergebnisse, so Parteichef Kastendiek, sondern die extremen Umbaukosten der Parteizentrale: „Wir haben uns da in eine Schuldenfalle begeben“, so der Landesvorsitzende. Seine Vorgängerin Rita Mohr-Lüllmann habe versäumt, die von ihrem Vorgänger und vom Schatzmeister beschlossene Maßnahme rechtzeitig zu stoppen. „Wenn nach Schuldigen für unsere Misere gesucht wird, haben wir jedenfalls eine Idee, wer es sein könnte“, gibt er zu verstehen.
16.12. Peter Nowack stellt eine neue Initiative zur Vermeidung von Diskriminierung vor: Menschen, die sich der Gruppen der Jenischen, Roma oder Sinti zugehörig führen „also: allen, die man früher noch ungestraft hätte Zigeuner nennen dürfen“, werde empfohlen braune Dreiecke auf die Kleidung zu nähen, „damit man sie nicht aus Versehen beleidigt“. Man habe sich bewusst für dieses Abzeichen entschieden, „um nicht etwa irgendwelche Assoziationen an den gelben Judenstern hervorzurufen“, so der Nordführer, über seine, wie er sagt, „finale Großlösung“. Auf Bremennorder Gebiet werde das Nichttragen mit Bußgeld, ersatzweise Peitschenhieben, belegt, warnt er. „Diese Abzeichen sind ein Schutz für sie“, appelliert Nowack an die Vernunft der Betroffenen. „Wir wollen hier niemanden versehentlich diskriminieren.“
30.12. Beim Kontrollgang nach der Jahresendreinigung im Bürger- und Sozialzentrum Huchting stößt ein Reinigungsdienstmitarbeiter in einer Abstellkammer auf Joachim Lohse: Beim Hearing im April hatte der Umweltsenator die falsche Tür erwischt und sich seither durch den Verzehr von Staubmilben und Kondenswasser am Leben erhalten. „Das keiner nach mir fragt, war mir auch langsam komisch vorgekommen“, erklärt er dem verdutzten Reinigungsfacharbeiter. Sprecherin Köhnlein entschuldigt sich für die verspätete Aufklärung, gibt aber zu bedenken, niemand habe etwas von Lohses Verbleib geahnt, nicht einmal der Herr Hinrichs vom Weser-Kurier, „und wieviel weniger dann ich!“
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