: KUNST
KunstNoemi Molitorschaut sich in Berlins Galerien um
Immer wieder das Mittagessen – minus Gemüse wie es im US-Diner Pflicht ist – fotografiert Stephen Shore. Im Close-up, doch mit Blick auf beiläufige Details, wie die Braun in Braun abgestimmten Platzdeckchen und Tellerränder, ornamentale Beigabe zum zerlaufenden Spiegelei. Andere Bildränder erzählen von der Sorgfalt der Inhaber, wie die Table Copies des „American Essays“ mit groß ausgezeichnetem Warnhinweis, diese auf dem Tisch zu lassen. Shores Schnappschüsse in Farbe, Teil seiner Retrospektive bei C/O Berlin, dokumentieren Reisen durch die USA der 1970er. „Scheinbar stilfrei“ zeugen sie von einer Wertschätzung des Alltäglichen, ebenso wie von Reflexionen über die Funktion der Fotografie, unbeeindruckt von kanonischen Vorgaben. Regeln legte Shore sich höchstens selbst auf. 1969 schoss er 24 Stunden lang jede halbe Stunde ein Foto von Freunden, im Schlaf, unterwegs, wieder im Bett. 1973 notierte er im Road Trip Journal, wann er seine Postkartenserie „Greetings from Amarillo“ verteilte, was im TV lief („Kung Fu“) und was es eben zum Mittagessen gab. Shores Fotografie notiert Gelebtes und trifft dabei stets auf den beiläufigen Punkt (bis 22. 5., täglich 11–20 Uhr, Hardenbergstr. 22–24).
Ritualhafte Wiederholungen auch bei „Secret Surface. Wo Sinn entsteht“ im KW. „Siehst du diesen Fels? Dort gehen die Toten hin. Siehst du ihn?“, fragt eine zunächst körperlose Stimme in Beth Collars Video „Island of the dead“ (2014) immer wieder, so als lade sie das Jenseits voll Zustimmung ein. Katharina Sieverdings gigantische Projektion „Die Sonne um Mitternacht schauen, SDO/NASA“ (2011–12) absorbiert alles um sie herum. In Anna Barhams gefundenem Video „-52NTHJT3K8“ multiplizieren sich an Kaulquappen erinnernde Punkte bei Berührung. Was hinter dem organischen Gewebe steckt, ist makaber faszinierend. Der Ausstellungsprolog zur Oberfläche und das dem Universum gewidmete erste Kapitel ergründen Fragen zu Materie und Kosmos derart fundamental, dass die in der Schau folgende Post-Internet-Kunst hinter sie zurücktreten muss (bis 1. 5., Mi-Mo, 12-19, Do 12-21 Uhr, Auguststr. 69).
Lebendige Materie auch das Auftaktthema der neuen Reading Group bei Decad. Texte von Jane Bennett, Elizabeth Grosz und Marsha Meskimmon stehen auf der Leseliste. Wenn die Präsenz der Dinge (Bennett) auf kosmopolitische Imagination (Meskimmon) und die Hinterfragung von Autonomievorstellungen (Grosz) trifft, dürfte sich ein weites Spannungsfeld zwischen globaler Kapitalismusordnung, Objektfetischen und Anthropozentrismus auftun. Es gibt noch Plätze und außerdem Kuchen (12. 3., 14 Uhr, Anmeldung: www.decad.org).
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