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Die Zerfaserung der Welt

A. L. Kennedy spiegelt in ihrem Roman „Paradies“, den sie jetzt im Literaturhaus vorstellt, die Seele einer Alkoholikerin

Mühsame Rekonstruktionen verpasster Realität

A. L. Kennedy hat eine Vorliebe für Titel, die in eine vieldeutige Irre führen – sie behaupten nichts Falsches, meinen aber nie das, was nahe liegend scheint. So verhält es sich auch bei ihrem Roman „Paradies“, den sie jetzt im Literaturhaus vorstellen wird.

Der Türöffner für das Paradies von Hannah Luckraft, der 36-jährigen Ich-Erzählerin, ist der Alkohol: Die verschiedenen Arten der Trunkenheit, in die er sie entführt, kennt sie alle, und besonders schön ist „Süßtrunken“, denn es bedeutet „wieder sechs zu sein und Eiscreme zu essen, aber wenn man weiter trinkt, geht es fast immer wieder weg.“

Hannah trinkt fast immer weiter. Dann landet sie dort, wo Selbstauflösung und Betäubung untrennbar in Momente höchster Intensität übergehen – und jedes Mal folgt unerbittlich die Verstoßung aus diesem betörend-schrecklichen Paradies. Nüchtern bei sich zu sein ist meist ein Elend: „Hier drinnen, wo ich nämlich lebe, ist es hässlich, in meiner Haut, ich will gar nicht so tun, als sei es anders. Aber wie sollte es sonst sein?“

Kennedy ist ihrer Heldin unter die Haut geschlüpft: Es ist allein deren Blick auf die Welt, dem wir folgen. Und unter diesem Blick zerfasert die Welt, fällt auseinander in ein vor und nach dem Rausch. Dazwischen fehlt oft ein Stück. Mühsam und langwierig ist die Rekonstruktion für Hannah – wie und wann ist sie an einen Ort, in eine Situation geraten? Die Welt wird eng und reduziert sich oft genug auf Hannah selbst, ihre Körperlichkeit. Es ist quälend intensiv, wie sie versucht, ihre Sinne beisammen zu halten, dem Einbruch der Realität einigermaßen schadlos zu entkommen.

Kennedy ist weit davon entfernt, eine Fallgeschichte oder eine psychologische Herleitung anzubieten. Die Verweise auf mögliche Ursachen für Hannahs Fluchtsucht per Alkohol bleiben dezent und fügen sich erzählerisch in die vielschichtige Charakterisierung der Figur. Ihre Zerrissenheit ist auch für Hannah selbst nur schwer zu ertragen – und macht sie doch aus, gibt ihr eine Haltung, die einen Gegenpol zu den Demütigungen, denen sie sich aussetzt, bildet. Denn neben dem Selbsthass gibt es die Selbstbehauptung, das Beharren darauf, dass etwas Gutes an ihrem Trinker-Ich, an ihrem Selbst ist – und das will sie sich nicht nehmen lassen, von niemandem.

Gut ist zum Beispiel die Liebe zu Robert, ebenfalls ein Trinker. Für die Intensität zwischen den beiden findet Kennedy zarte und zugleich starke Sätze, die einen wunderbaren Kontrast zur manchmal derben Selbstironie, zum Sarkasmus Hannahs bilden. Ihr ist eine großartige, dichte und gänzlich unsentimentale Seelenspiegelung gelungen.

Carola Ebeling

A. L. Kennedy: „Paradies“. Berlin 2005, 362 S., 22,50 Euro. Lesung: Di, 25.10., 20 Uhr, Literaturhaus, Schwanenwik 38

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