Charakterstudie einer verlorenen Seele

FILM In „For Ellen“ zeichnet die Regisseurin So Young Kim das Porträt eines Vaters, der mit leeren Händen vor seiner Tochter steht

Zwei Stunden sind keine angemessene Gegenleistung für ein verschenktes Leben, doch mehr Zeit bleibt Joby laut anwaltlicher Verfügung für ein erstes und letztes Treffen mit seiner sechsjährigen Tochter Ellen nicht. Das ist der Preis für eine Scheidung im gütlichen Einvernehmen und den Verzicht auf das Sorgerecht. Ihre Begegnung ist ein schüchternes, unsicheres Herantasten von im Grunde zwei Kindern im schneebedeckten Hinterhof Amerikas, wo einem zum Zeitvertreib nur der Weg in die nächste Shopping Mall bleibt.

Auf diese letzten knapp dreißig Minuten zwischen Vater und Kind, die gerade mal reichen, um sich über einige grundlegende Versäumnisse klar zu werden und hilflos nach Antworten auf berechtigte, mit kindlicher Naivität formulierte Fragen, die wie Ohrfeigen sitzen („Warum hast du mich nie besucht?“), zu suchen, läuft So Young Kims dritte Regiearbeit „For Ellen“ mit einer bewundernswerten erzählerischen Klarheit hinaus. Die erste Stunde des Films ist die atmosphärische Charakterstudie einer verlorenen Seele, die manchmal gerade noch einen Spaltbreit für einen Blick auf humorvolle, aber auch peinlich berührende Nebenschauplätze offenbleibt (vor allem dank Jon Heder in der Rolle von Jobys Anwalt).

Joby kommt im verschneiten Upstate New York an und gleich mal von der Fahrbahn ab. Er ist nicht gemacht für das Leben auf dem Land, schon seine billigen Rockstar-Posen lassen seine Affinität zu Los Angeles erkennen, wo er es, so viel lässt sich einem kurzen Telefonat entnehmen, ganz offensichtlich auch nicht „geschafft“ hat. Und bevor man überhaupt versteht, was Joby an diesen gottverlassenen Ort verschlagen hat, hat die Regisseurin ohne große Worte etabliert, dass der Junge schlichtweg für das Leben nicht gemacht ist.

Es bedarf schon einer besonderen darstellerischen Leistung, eine Figur wie Joby nach einer solchen Einführung auf die Seite des Zuschauers zu ziehen oder wenigstens das Interesse an seiner Figur zu wecken. Paul Dano gehört, daran bestehen seit seinem furiosen Auftritt als Prediger in Thomas P. Andersons „There Will be Blood“ kaum Zweifel, zu den unerschrockenen Schauspielern seiner Generation. In „For Ellen“ ist es ein einsamer Tanz in einer Provinzkneipe zu Whitesnakes Powerballade „Still of the Night“, inklusive den branchenüblichen Pathosgesten, mit dem Dano Joby als gescheiterte Existenz am Rande zur Selbstkarikatur entblößt.

Schon Kims letzter Film „Treeless Mountain“ handelte von zwei Mädchen, die von ihrer Mutter alleingelassen wurden. „For Ellen“ erzählt nun eine ähnliche Geschichte aus der Perspektive eines Vaters, der seine Tochter für eine Musikerkarriere aufgab und nach Jahren mit leeren Händen zurückkehrt, um sich reumütig von seinem vorherigen Leben zu verabschieden. Kims Film wirkt dabei so gedämpft wie die Landschaft, die die Protagonisten sanft einhüllt. Aber so leicht ist einer wie Joby nicht zu fassen. Bevor die Schlusstitel über die Leinwand rollen, befindet er sich schon wieder auf der Flucht.

ANDREAS BUSCHE

■ „For Ellen“. Regie: So Yong Kim. Mit Paul Dano, Margarita Levieva. USA 2012, 94 Minuten