Algerien lebt von der Substanz

Öl Der Preisverfall macht Algier schwer zu schaffen. Die Angst vor sozialen Konflikten wächst

Bringt kaum noch Gewinn: Gaskraftwerk in Algerien Foto: Louafi Larbi/reuters

MADRID taz | Der niedrige Ölpreis kurbelt den Konsum in den westlichen Ländern an. Doch die Produzentenländer haben es schwer. Algerien ist eines davon. Die fallende Öl- und Gaspreise lassen die Einkünfte des nordafrikanischen Landes stürzen. Mittlerweile pendelt der Preis pro Barrel zwischen 30 und 40 Dollar. Algier rechnete mit über 100 bis 110 Dollar.

Mehr als 97 Prozent der algerischen Exporte entfallen auf Erdöl und Erdgas. 60 Prozent des Staatshaushaltes werden mit den Einkünften daraus gedeckt. Seit 2013 ist der Preis für Erdöl um 72 Prozent und der für Erdgas um 53 Prozent gesunken. Schuld daran ist das weltweite Überangebot. Der Staat beschäftigt direkt oder indirekt60 Prozent der arbeitenden Bevölkerung. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt offiziell bei 25 Prozent. Algerien traut sich bisher nicht an Sozialkürzungen heran. Die Angst vor sozialen Konflikten sitzt tief. Erinnerungen an den letzten Preisverfall in den 1980ern kommen auf. Damals brach nach einer Revolte der großstädtischen Jugend das Einparteiensystem zusammen. Die Islamisten stiegen in der Gunst der Wähler. 1992 putschte das Militär nach einem Wahlsieg der Religiösen. Das Land versank im „dunklen Jahrzehnt“ mit 200.000 Toten.

„Wenn der Preisverfall länger anhält, ist das besorgniserregend“, gesteht die Regierung ein. Bisher nimmt Algier ein steigendes Haushaltsdefizit in Kauf. Es geht ans Eingemachte. Die Rücklagen werden aufgebraucht. Bereits in zwei bis drei Jahren könnte die Staatskasse leer sein, fürchten Wirtschaftsexperten.

Viel ist vom Ausbau der Landwirtschaft und der Industrie die Rede. Importe sollen dadurch überflüssig gemacht werden. Doch seit den 1970ern, als die damals erst ein Jahrzehnt unabhängige ehemalige französische Kolonie tatsächlich versuchte, mittels Petrodollars eine eigene Industrie aufzubauen, ist nur wenig geschehen. Die Industrie macht nur fünf Prozent des BIPs aus. Selbst Orangen werden mittlerweile eingeführt.

Die Regierung in Algier versucht zaghaft gegenzusteuern. Der Dinar wurde abgewertet, die Mehrwertsteuer auf viele Produkte von 7 auf 17 Prozent angehoben, Alkohol, Tabaksteuer und die Abgaben auf Kosmetikartikel gar um 40 und 60 Prozent. Pkw werden mit Einfuhrzöllen belegt, die Kfz-Steuer stieg zum Jahresbeginn ebenso wie der Benzin- und Strompreis. Zum einen sollen damit zusätzliche Einnahmen für die Staatskasse erzeugt werden, zum anderen des Außenhandelsdefizit durch weniger importierte Güter verringert werden.

Bei wichtigen Infrastrukturprojekten, wie dem Ausbau der Straßenbahn in Algier und anderen Großstädten oder der 1.000 Kilometer langen Ost-West-Autobahn, ist die Finanzierung nicht mehr gesichert.

Algerien übt Druck auf Saudi-Arabien aus, um zu erreichen, dass die Opec wieder zu festen Fördermengen zurückkehrt, damit der Preis steigt. Diese Woche kam es zu einer ersten Einigung zwischen Saudi-Arabien und dem nicht der Opec angehörenden Russland. Die Fördermengen sollen stabilisiert werden. Von Einschränkungen ist aber nicht die Rede. Damit dürfte der Preis kaum anziehen. Analytiker der Bank Goldman Sachs prophezeien gar einen Preis von unter 20 Dollar für das Ende dieses Jahrzehnts. Dann könnte Algerien nicht einmal mehr die Kosten für die Förderung von 20,40 Dollar pro Barrel decken. Reiner Wandler