Fummeln und Zappeln

RHYTHMUS Die Chicagoer Postrocker von Tortoise wissen im Berliner Berghain auch nach 26 Jahren Bandgeschichte noch zu überraschen

Ein bisschen Anlaufzeit brauchen sie schon, die fünf Herren aus Chicago. Als aber beim dritten Song des Abends der tiefe Klang der Bassdrum und der helle, präzise Sound der Snare Drum wechselnd in der Halle des Berliner Berghain widerhallen, da wird es groovy, fricklig, tanzbar. „Shake Hands with Danger“ heißt das Lied, das die Rock-Erneuerer oder -Überwinder von Tortoise gerade spielen – ein Song vom im Januar erschienenen siebten Album der Band, „The Catastrophist“, dessen Rhythmus ein wenig an The Cures „Lullaby“ erinnert. John McEntire, Drummer und Toningenieur von Tortoise, sitzt in der Mitte der Bühne hinter einem der beiden Schlagzeuge; er spielt diesen harten Beat schön straight und zackig – eine Einladung zum Mitwippen, der viele Besucher nachkommen.

Nach einigen Jahren Abstinenz sind Tortoise, die 1994 debütierten und seither für eine aufregende Melange aus Krautrock, Jazz, Minimal Music, Dub und elektronischer Musik stehen, wieder in Deutschland zu Gast. Gefragt ist das Quintett, dessen meist instrumentaler Sound sich zwar weiterentwickelt, das sich aber zuletzt auch nicht gerade neu erfunden hat, weiterhin: Das Berghain ist ausverkauft, mehr als 1.000 Besucher sind gekommen.

Synthies, Synthies, Synthies

Das belgische Trio Blondy Brownie eröffnet den Abend mit einer zuckrigen Mixtur aus Sixties-Pop, Synthie-80er-Geschichten, Krautigem und Chanson – ein ganz okayer Aperitif für das Kommende. Erster echter Höhepunkt ist der Auftritt von Sam Prekop. Prekop ist eigentlich Kopf der Band The Sea & Cake (auch da heißt der Drummer McEntire), führt hier aber sein jüngstes Solo-Album „The Republic“ auf. Darauf zu hören: Synthies, Synthies und noch mal Synthies.

Prekop sitzt – wie naheliegend – vor einem modularen Synthesizer; ruhig, die Beine übereinandergeschlagen, den Kopf mit einer roten Wollmütze bedeckt. Er fummelt an Knöpfen, Kabeln und Steckern herum – heraus kommen knurpsende, flirrende und verspielte Sounds, die manchen vielleicht an alte Amiga- oder C64-Zeiten erinnern mögen. Als nach einer halben Stunde so etwas wie Flow entsteht, ist der Spaß aber auch schon wieder vorbei.

Bis Tortoise zu diesem Flow finden sollen, dauert es wie erwähnt ein wenig. Dass die beiden Schlagzeuge in der Mitte der Bühne platziert sind, ist kein Zufall, die Drums sind bei Tortoise elementar. McEntire, Dan Bitney und John Herndon wechseln sich hinter Toms und Becken ab. Einige wenige Lieder werden mit zwei Schlagzeugern bestritten, hier ist insbesondere das Zusammenspiel zwischen Bitney und Herndon hervorzuheben, auch wenn McEntire der technisch perfektere Drummer ist. Gitarrist Jeff Parker und Bassist Doug McCombs, der stoisch in Jeanshemd und mit Sigmund-Freud-meets-Karl-Marx-Bart ausgestattet vor der Gitarrenbox steht, halten sich eher etwas im Hintergrund, sind aber der Kitt für die Kompositionen Tortoises. Ebenso Drumcomputer, Effektgeräte und eine Marimba, die eher reduziert eingesetzt werden.

Blues! Soul!

Im Lauf des Abends zeigen Tortoise, die meist unter dem Genre Postrock gelabelt werden, dass sie noch zu überraschen wissen. So macht man zum Beispiel mit dem nur instrumental vorgetragenen Albumtrack „Yonder Blues“ (auf dem Album ist Georgia Hubley von Yo La Tengo am Gesang zu hören) einen Abstecher in Soul- und Bluesgefilde. Zwischendurch entsteht eine schwerelose Jam-Session-Atmosphäre, besonders bei den dubbigen, jazzigen Stücken. Vom neuen Album bieten Tortoise alle Stücke – abgesehen von der tollen David-Essex-Adaption „Rock On“ – dar. Dazwischen spielen sie einige ältere Tracks. Nach eineinhalb Stunden, gegen Mitternacht, verlassen Tortoise die Bühne.

Die Besucher die gegen Ende laut „We love you, Tortoise“ brüllen, kann man gut verstehen. Hochenergetische Musik voller Ausfransungen und Wendungen zu spielen, zu der man unaufhörlich zappeln muss, und dabei völlig unprätentiös zu erscheinen – das ist eine charmante und rar gewordene Gabe. Jens Uthoff

Weitere Termine: 14. 2. Stall 6, Zürich, 15. 2. franz.K, Reutlingen, Ende Mai touren Tortoise nochmals: www.thrilljockey.com