Das Kalendarium zum dada-Jahr 1916

1. Januar 1916: Die von Rosa Luxemburg im Gefängnis verfassten „Leitsätze über die Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie“ werden zum Programm der marxistisch-sozialistischen Spartakusgruppe, der auch der Sozialist Karl Liebknecht angehört. Die Gruppe hatte sich unmittelbar nach der Zustimmung der SPD-Fraktion zu den Kriegskrediten im August 1914 als „Gruppe Internationale“ um Rosa Luxemburg gebildet, die die Kredite ablehnte und sich klar gegen den Krieg posi­tio­nierte. 1917 spaltet sich die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) von den Sozialdemokraten ab, die Spartakusgruppe wird zu ihrem linken Flügel. Maßgeblich von der Spartakusgruppe angestoßen (zu dieser Zeit schon umbenannt in „Spartakusbund“), schließen sich zum Ende des Jahres 1918 schließlich linke Kräfte in der KPD zusammen.

15. Januar: Die Zugverbindung des „Balkan-Express“ wird eröffnet. Rund 50 Stunden dauert die Fahrt, die Route führt von Berlin über Dresden, Prag, Wien, Budapest und Belgrad. Erst die Eroberungen in Serbien im Oktober 1915 machten die Schienenverbindung zwischen dem Deutschen Reich und dem kriegsverbündeten Osmanischen Reich möglich. In den Folgejahren dient die Strecke vor allem der Abwicklung von kriegswichtigen Gütertransporten.

5. Februar: Das „Cabaret Voltaire“ eröffnet in der Spiegelgasse 1 in Zürich, nur wenige Meter von Lenins damaliger Unterkunft entfernt, und wird zum Geburtsort der Dada-Bewegung. Das Zürich der 10er Jahre ist ein Refugium für Andersdenkende und für all jene, die den nationalen Kriegen ihrer Heimatstaaten entkommen wollen. Hugo Ball verliest im Cabaret Voltaire sein Lautgedicht „Gadji Beri Bimba“, AutorInnen und Dada-KünstlerInnen wie Emmy Hennings, Hans Arp und Tristan Tzara geben sich dort die Klinke in die Hand.

21. Februar: Im Nordosten Frankreichs beginnt die „Schlacht um Verdun“. Deutsche und französische Truppen bekriegen sich etwa sieben Monate bei beinahe unveränderten Frontlinien – das Ergebnis dieser Schlacht um einige Meter Bodengewinn sind etwa 300.000 Tote auf beiden Seiten. „Verdun“ wird in der Folge zum Symbol für die Absurdität des Krieges im Allgemeinen und des Stellungskrieges aus den Schützengräben im Besonderen.

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Das Dada-Jahr 1916

20. März: Albert Einstein veröffentlicht in den „Annalen der Physik“ seinen Artikel „Die Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie“. Einstein, dessen Karriere ihren Anfang in Zürich nahm, lebt zum Zeitpunkt dieses wissenschaftlichen Durchbruchs bereits seit zwei Jahren in Berlin. Die Theorie besagt: Wegen ihrer Gravitationswirkung krümmt Materie die Raumzeit. Diese Erkenntnis eröffnet die Möglichkeit, vieles zu erklären und zu berechnen, was der Physik vorher unzugänglich war: Schwarze Löcher beispielsweise oder die Krümmung von Sternenlicht durch einen schweren Himmelskörper. Einsteins Theorie ist bis heute ungebrochen gültig und neben der Quantenmechanik eines der beiden aktuellen Theoriegebäude der Physik.

April: Die erste Ausgabe der Zeitschrift Der Jude erscheint im Löwit-Verlag. Mitbegründer der Zeitschrift ist der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber (1878–1965), der um 1900 im Briefkontakt mit Theodor Herzl stand und sich der kulturzionistischen Bewegung verschrieben hat. Der Jude ist zionistisches Sprachrohr, vielleicht sogar mehr jedoch Kulturzeitschrift. In ihr publizieren auch nicht-zionistische Schriftsteller wie Franz Kafka und Alfred Döblin.

Mai: US-amerikanische Archäologen entdecken im nördlichen Guatemala eine historische Maya-Stadt, deren Blütezeit auf das erste vorchristliche Jahrtausend datiert wird. Der Archäologe Sylvanus Morley gibt der neu entdeckten Stadt den Namen „Uaxactún“. Der Name ist eine Kombination zweier Wörter, die auf den Mayakalender verweisen – und von der Klangmelodie ein Wort ergeben, das an „Washington“ erinnern soll. Die Praxis, Dinge in kolonialer Tradition nach ihrem Entdecker zu benennen, ist 1916 immer noch gängige Praxis.

22. Mai: Die US-amerikanische Zeitung Chicago Tribune verwendet erstmals den Begriff „Jaz“ zur Beschreibung der in New Orleans neu entstehenden Musikrichtung. Der Begriff wurde zuvor im Baseball benutzt und bezeichnete die Eigenschaften von Elan, Kraft und Kampfgeist. In New Orleans gibt es schwarze und weiße Jazz-Bands, die wegen der strikten Rassentrennung nicht gemeinsam spielen, auf den Straßen jedoch musikalisch gegeneinander antreten.

29. Mai: Die Deutsche Turnerschaft arbeitet gemeinsam mit dem Preußischen Kriegsministerium an den „Vaterländischen Kampfspielen“ und erfindet dafür neue Wettbewerbsarten. Zu den neuen Disziplinen zählen: Handgranatenziel- und -weitwurf, Gepäckmarsch und Hindernislauf mit Sturmgepäck. Auch das Radfahren, als effiziente Fortbewegungsart im Feld, steht hoch im Kurs. Das Motto der Spiele: „Unser Spiel ist Dienst fürs Vaterland“.

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Das Dada-Jahr 1916

6. Juni: Der Präsident der Republik China, Yuan Shikai, stirbt in Peking. In China, zuvor mehr als 2.000 Jahre lang Kaiserreich, war 1912 zum ersten Mal eine Republik installiert worden. Yuan, Präsident der jungen Republik, versuchte 1915, die Kaiserherrschaft wiederherzustellen, und scheiterte daran. Der Ruf nach Reformen wuchs auch in China. Nach dem Tod Yuans versinkt das Land in unklaren Machtverhältnissen – und wird in den Ersten Weltkrieg einbezogen: China unterstützt die Alliierten ab 1917 vor allem mit Arbeitskräften.

9. Juni: Die Stummfilmkomödie „Schuhpalast Pinkus“ feiert Premiere. Regisseur des Films ist Ernst Lubitsch, der gleichzeitig die Hauptrolle übernimmt. Der Film wird der erste große Erfolg des Regisseurs, der Anfang der zwanziger Jahre nach Hollywood wechselt. Die Komödie spielt im jüdischen Kleinbürgermilieu und wird später für dessen stereotype Darstellung kritisiert.

24. Juni: Beginn der Schlacht an der Somme. Die Kämpfe in Nordfrankreich zwischen französischen, britischen und deutschen Soldaten ziehen sich bis November hin und werden dann abgebrochen. So wie in Verdun gibt es auch hier keinen klaren Sieger. Es sterben etwa eine Million Soldaten. Während die Schlacht noch läuft, kommt in London der Dokumentarfilm „Battle of the Somme“ in die Kinos – mit etwa 20 Millionen Zuschauern ein Publikumserfolg.

10. Juli: Chalie Chaplins Stummfilm „Der Vagabund“ feiert in den USA Premiere. Der Komödiant und Schauspieler tritt abermals in seiner beliebtesten Rolle des tramp auf mit Zweifingerbart, Melone und ausgelatschten Schuhen. In Hollywood schießen die Filmstudios aus dem Boden, die Produk­tionen sind eng getaktet: Allein 2016 veröffentlicht Chaplin an die zehn Filme.

1. August: „Zwei Jahre dieser verruchten Höllenpest“, notiert der Anarchist Erich Mühsam, der von München aus in seinem Tagebuch das Kriegsgeschehen aufzeichnet und kommentiert. Er bemüht sich um Allianzen mit den Sozialdemokraten, um den Krieg zu stoppen, es kommt jedoch zu keiner Einigung. Mühsam beschäftigen nicht nur die Kriegsgeschehen, bestürzt beobachtet er auch den Völkermord an den Armeniern, der zu dieser Zeit unter deutscher Duldung im Osmanischen Reich stattfindet und dem bis 1917 mehr als 1 Millionen Menschen zum Opfer fallen.

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Das Dada-Jahr 1916

23. August: „Vor uns rollte und donnerte ein Artilleriefeuer von nie erahnter Stärke; tausend zuckende Blitze hüllten den westlichen Horizont in ein Flammenmeer.“ In „Stahlgewitter“, unter dem der Offizier Ernst Jünger seine Kriegstagebücher publiziert, gibt das Zitat seine Eindrücke bei der Ankunft auf dem Schlachtfeld an der Somme wieder. Der Schriftsteller liefert in seinen Aufzeichnungen weniger politischen Kommentar als eine sehr direkte Schilderung seiner Kriegserfahrungen.

29. August: Die Dritte Oberste Heeresleitung unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff nimmt ihre Arbeit auf. Der deutsche Kaiser Wilhelm II., laut Gesetz Befehlshaber aller Truppen, hat seine Hoheit über die Streitkräfte schon 1914 zu weiten Teilen an das Militär übertragen. Mit der Übernahme der OHL durch Hindenburg und Ludendorff verliert der Kaiser zunehmend an Einfluss – in den letzten zwei Kriegsjahren trägt das Deutsche Reich Züge einer Militärdiktatur.

14. September: Die Sonderausstellung der Künstlervereinigung Münchener Secession zum Gedenken des im Krieg gefallenen Franz Marc wird eröffnet. Ab 1892 spalteten sich Vereinigungen bildender Künstler von den bestehenden Institutionen ab. Ausstellungen wurden zu dieser Zeit noch streng kuratiert, und viele der Künstler fielen durch das Raster des konservativen Kunstbegriffs. In München, Wien und Berlin entstehen neue Gruppen, unter ihren Gründungsmitgliedern sind Max Liebermann, Lovis Corinth, Gustav Klimt und Käthe Kollwitz.

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Das Dada-Jahr 2016

15. September: In der Schlacht an der Somme wird von britischen Truppen zum ersten Mal ein Panzer eingesetzt, zunächst mit nur mäßigem Erfolg. Im britischen Lincoln werden im Auftrag des britischen Kriegsministeriums die ersten Exemplare des neuen Kriegsgerätes gebaut. Während der Planungsphase trägt das Projekt den Tarnnamen „Ausschuss für die Bereitstellung von Tanks“, daher der bis heute im Englischen gebräuchliche Begriff.

30. September:In Prag, damals noch Teil der österreichisch geprägten K-und-K-Monarchie, wird Walter Hasenclevers Drama „Der Sohn“ in Prag uraufgeführt. Der Schriftsteller, anfangs vom Krieg begeistert und dann schnell ernüchtert, befindet sich zu diesem Zeitpunkt an der mazedonischen Front. Für die Premiere erhält er keinen Urlaub, kann aber kurz darauf den Endproben und der Uraufführung des Stückes im sächsischen Dresden beiwohnen. Die naturalistische Umsetzung des Stückes gefällt ihm nicht – erst in der Inszenierung von Richard Weichert am Mannheimer Theater 1918 kommt der expressionistische Gehalt des Dramas voll zum Tragen.

4. Oktober: In Wien wird die Oper „Ariadne auf Naxos“ aufgeführt – eine Koproduktion des Komponisten Richard Strauss mit dem österreichischen Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal, der den Text der Oper verfasst hat. Ariadne, vom Geliebten verlassen und zu Tode betrübt, wird aufgeheitert von Zerbinetta, die derer gleich vier hat und das Thema mit mehr Leichtigkeit angeht. Die Aufführung ist ein großer Erfolg. In der Stadt ist auch der Erste Weltkrieg spürbar: Es werden viele Verwundete und Kriegsflüchtlinge versorgt, die Lebensmittel sind knapp.

11. Oktober: Das Preußische Kriegsministerium ordnet die Erfassung aller im Heer dienenden und sämtlicher ausgemusterter Juden an. Diese „Judenzählung“ ist mehr ein Akt der Stigmatisierung als eine statistische Erhebung: Das Material zur Erfassung enthält antisemitische Begleittexte, die Bögen werden von den Militärs ausgefüllt, das Ergebnis geheimgehalten. Der antisemitische Duktus, Juden würden sich um den Kriegseinsatz „drücken“, erhält so neuen Aufschwung. Die Anschuldigungen entbehren jeder Grundlage, dennoch stärkt die Erhebung den Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung maß­geblich.

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Das Dada-Jahr 1916

November: Die deutschen Truppen in Deutsch-Ostafrika werden in die Südostecke des heutigen Tansania zurückgedrängt, das deutsche Kolonialreich in Afrika ist Geschichte. Deutsch-Südwestafrika und Togo sind längst verloren, seit Februar Kamerun und seit Mai Ruanda und Burundi. Frei werden die Menschen damit nicht – die Gebiete werden zwischen Briten, Franzosen, Belgiern und Südafrikanern aufgeteilt. In den Kolonialtruppen kämpfen Hunderttausende afrikanische Söldner – ein Weg mehr, auf dem die europäischen Mächte fremde Menschen und Ressourcen beanspruchen.

21. November: Der österreichische Kaiser Franz Josef I., Mitbegründer der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn und Auslöser des Ersten Weltkrieges (Kriegserklärung an Serbien 1914) stirbt nach knapp 68-jähriger Regierungszeit in Wien. Der Kaiser teilte seine Macht nur widerwillig mit demokratischen Institutionen. Nach seinem Tod nimmt für zwei Jahre sein Nachfolger Karl I. seinen Posten ein, danach ist das Kaisertum auch in Österreich Geschichte.

Zusammengestellt von SOPHIE fedrau