107 Beschuldigte, 7 Verurteilte

Gewalt Heute diskutieren Fachleute die niedrige Verurteilungsquote bei Sexualstraftaten im Land Bremen. Die größte Hürde ist die Staatsanwaltschaft, sagt eine neue Studie

Viele Täter mussten sich nicht dem Gericht stellen  Foto: Ingo Wagner/dpa

Von Eiken Bruhn

Endlich hat Daniela Müller Zahlen. Die zählen mehr als die Erfahrungen der Frauen, die sie als Psychologin beim Frauennotruf Bremen beraten hat. Opfer sexualisierter Gewalt melden sich dort. Nur sehr wenige von ihnen erleben, dass die Täter verurteilt werden. Die größte Hürde ist die Staatsanwaltschaft. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung im Auftrag des Innensenators, die heute vorgestellt wird.

Beispielhaft hatte das Institut für Polizeiforschung an der Hochschule Bremen alle Verfahren aus dem Jahr 2012 analysiert, bei denen es um Sexualstraftaten ging. Das Ergebnis: Nur gegen 21 von 107 Beschuldigten erhob die Staatsanwaltschaft Anklage, die anderen Verfahren stellte sie ein. In zwei weiteren Fällen geschah dies nach Anklageerhebung. Am Ende mussten sich nur 13 mutmaßliche Täter einem Gericht stellen. Sechs von ihnen wurden freigesprochen – in fünf Fällen hatte die Staatsanwaltschaft den Freispruch beantragt.

107 Beschuldigte und nur 7 Verurteilte. Das sei, befindet der Autor der Studie, der Strafrechts-Professor Arthur Hartmann, auch im Ländervergleich eine „niedrige“ Quote. Daniela Müller haben die Zahlen nicht überrascht. „Wir wissen das seit Jahren und haben das immer wieder thematisiert.“ Aber Konsequenzen wird es erst jetzt geben. Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) will heute Maßnahmen ankündigen, mit denen die Quote erhöht werden kann.

In der Studie finden sich dazu einige deutliche Hinweise. An erster Stelle steht die Befragung der Opfer, zwei Männer und 93 Frauen. „Ausschlaggebend“ dafür, ob die Staatsanwältinnen des Sonderdezernats die Ermittlungen weiter verfolgen, „ist die Qualität der Aussagen der Opferzeuginnen“, heißt es in der Untersuchung.

Das heißt: Wenn sich ein Opfer nur bruchstückhaft erinnern kann, sich widerspricht, die Aussage nicht wiederholen will oder gar widerruft, steigt die Neigung der Staatsanwaltschaft, das Verfahren einzustellen, weil sich aus ihrer Sicht die Tat nicht nachweisen lässt. Dabei kannten die Staatsanwältinnen in 97,9 Prozent aller Fälle die Aussagen nur aus den Polizeiakten. Drei von ihnen begründeten dies im Gespräch mit Mitgliedern der Forschungsgruppe damit, dass den Opfern mehrere Aussagen erspart bleiben sollen, um sie nicht immer wieder an die Tat zu erinnern.

„Es ist gut, wenn es möglichst bei einer Aussage bleibt“, sagt auch die Psychologin Müller. Sie weist darauf hin, dass es nicht untypisch ist, wenn Gewaltopfer keine lückenlosen kohärenten Berichte abgeben können. Das könnten die Staatsanwältinnen wissen, wenn sie in Aussagepsychologie umfassend geschult seien. Doch den Forschern sagten sie selbst, dass die für Sexualstraftaten zuständigen PolizistInnen „besser in Vernehmungslehre ausgebildet seien als sie selbst“, wie es in der Studie heißt. Ihr Fortbildungsstand wird dort als „ausbaufähig“ beschrieben.

„Ermittlungen zur Person der Tatverdächtigen sollten intensiviert werden“

Bei Sexualstraftaten, sagt die Notruf-Expertin Müller, käme hinzu, dass sich Opfer und Täter häufig kennen würden und sei es nur seit ein paar Stunden aus der Disco. Von Wildfremden überfallen wurden nur 6,4 Prozent der Opfer. Immerhin ein Fünftel führte eine Liebesbeziehung zum Tatzeitpunkt. „Da wollen die Frauen oft erst einmal nicht wahrhaben, was passiert ist.“

Überhaupt nicht verwunderlich sei daher, dass fast ein Fünftel der Opfer die Aussage widerrufen hat, sagt Daniela Müller. Natürlich müsse deren Wunsch, sich einem Gerichtsverfahren und einer Konfrontation mit dem Täter nicht stellen zu wollen, unbedingt respektiert werden. Dennoch sei fraglich, ob es nicht doch mehr Ermittlungen im Umfeld des Täters geben müsse.

Aus der Studie geht hervor, dass die Staatsanwaltschaft die Verfahren unmittelbar einstellte, wenn die Aussage zurückgezogen wurde. Also nicht ergründete, wie es um ein Alibi stand. Überhaupt die Täter: Für die interessierten sich die Ermittler nicht besonders, wie der Autor der Studie kritisch anmerkt. Die Polizei vernahm 2012 in der Hälfte der Fälle keine Beschuldigten, die Staatsanwaltschaft gar nicht. „Ermittlungen zur Person der Tatverdächtigen und ihres Umfeldes sollten intensiviert werden“, heißt es am Schluss der Studie in den Verbesserungsvorschlägen.