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Der Fetisch Pünktlichkeit

Mobilität Nach der Katastrophe von Bad Aibling müssen auch die Bahnkunden ihre Ansprüche nach immer schnelleren und unverspäteten Zügen hinterfragen

Menschliches oder technisches Versagen? Foto: Matthias Schrader/ap

von Richard Rother

Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. Aber manchmal ist es sehr schwer, Geduld zu üben: Vier Tage nach dem verheerenden Zugunglück im oberbayerischen Bad Aibling ist immer noch unklar, wie es zu der Katastrophe kommen konnte. Am Faschingsdienstag stießen dort zwei Regionalzüge auf einer eingleisigen Strecke frontal zusammen. Zehn Menschen starben, 80 Menschen wurden verletzt, einige davon schwer. Verständlich ist, dass nun die Opfer und ihre Angehörigen, Bahnreisende und Bahnmitarbeiter rasch wissen wollen, warum es zur Katastrophe kam.

Schließlich war die Strecke mit einem speziellen Sicherungssystem ausgestattet, der sogenannten Punktförmigen Zugbeeinflussung. Diese soll verhindern, dass ein Lokführer ein rotes Signal übersieht und auf ein falsches Gleis fährt, was in der Vergangenheit zu schweren Zugunglücken führte. Überfährt der Lokführer ein auf Rot stehendes Signal oder rast er zu schnell in eine Kurve, bremst ihn das System automatisch. Mittlerweile sind fast alle Strecken in Deutschland mit dieser oder anderer Sicherungstechnik ausgestattet. Warum die Sicherungen in Bad Aibling versagten, darüber kann im Moment nur spekuliert werden. Möglicherweise handelt es sich um menschliches oder technisches Versagen oder um eine Kombination aus beidem.

Eine im Raum stehende Vermutung verstört dabei in besonderem Maße, weil sie grund­sätzliche Fragen des Mobilitäts- und Gesellschaftsverständnisses berührt. Demnach könnte ein Fahrdienstleiter in der irrigen Annahme eines freien Gleises die Sicherung bewusst ausgeschaltet und die Strecke freigegeben haben, um Zugverspätungen im Berufsverkehr zu verringern oder zu verhindern.

Sollte es so gewesen sein, fiele plötzlich ein anders Licht auf die aufgeregte Debatte um mangelhafte Pünktlichkeit bei den Bahnen (in Bad Aibling waren Privatbahnen beteiligt, während die Strecke von der bundeseigenen Deutschen Bahn AG betrieben wird). Wenn plötzlich Pünktlichkeit und Schnelligkeit wichtiger gewesen sein sollten als Sicherheit – und sei es nur in einem Einzelfall –, wäre dies ein Schock, der zu denken ­geben müsste. Denn im Bahnverkehr muss gelten: Die Sicherheit der Fahrgäste und der Bahnmitarbeiter hat absoluten Vorrang. Keine Verspätung rechtfertigt es, sie aufs Spiel zu setzen. Im Straßenverkehr darf auch niemand mit 100 Kilometern pro Stunde durch einen Ort rasen, weil er zuvor im Stau stand und Angst hat, zu spät zu einem wichtigen Termin zu kommen.

Wenn Pünktlichkeit und Schnelligkeit wichtiger gewesen sein sollten als ­Sicherheit – und sei es nur in einem Einzelfall –, dann wäre dies ein Schock

Deshalb ist auch der Anspruch vieler Fahrgäste, dass die Bahn immer pünktlich zu kommen habe, oft überzogen: Klar, es darf und sollte keine Verspätungen geben, die auf falsche Sparpolitik der Bahn – etwa bei der Wartung von Weichen und Zügen – zurückzuführen sind. Aber gegen viele Verspätungen können die Bahn und ihre Konkurrenten nichts machen: Wenn beispielsweise ein riesiges Blechdach einer Scheune im Sturm auf eine Schiene fliegt, wie in dieser Woche geschehen. Oder wenn Selbstmörder sich vor einen Zug schmeißen oder die Bahnpolizei Züge stoppen muss, weil es Schlägereien aggressiver junger Männer gibt, dann sollten die Kunden solche Störungen nicht den Bahnunternehmen anlasten.

Ebenso sollten sie sich von dem Gedanken verabschieden, dass es immer schneller von einem Ort zum anderen gehen kann und dass so die Entfernungen für tägliches Berufspendeln immer größer werden können. Wer sich auf einen Fahrplan verlassen können will, also Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit einfordert, muss akzeptieren, dass die Fahrplangestalter Puffer in die Pläne einbauen, die Zeit kosten. Denn es kann immer etwas Unvorhersehbares geschehen: etwa dass im Nah- oder Regionalverkehr das Aus- und Einsteigen länger dauert, weil bei schlechtem Wetter deutlich mehr Fahrgäste und Fahrräder in die Waggons drängen. Ein Autofahrer kann bei Eis und Schnee mehr Zeit einplanen und früher losfahren; ein Fahrplangestalter kann so flexibel nicht sein, da die Pläne zu allen Jahreszeiten funktionieren müssen.