Abgeschiedenheit Wie man sich einen Pfad durch die Sinnlosigkeit bahnt: María Sonia Christoffs Roman "Lasst mich da raus"
: Das Projekt der Gelassenheit

Die Welt der Menschen ist voller leerer Rituale und verlogener Kommunikation. Das hat Mara, eine ehemals hochbeschäftigte Konferenzdolmetscherin, in ihrem Berufsleben bis zur Neige auskosten müssen und beschlossen, nicht mehr mitzumachen. Sie zieht sich zurück in eine kleine argentinische Provinzstadt, wo sie eine Stelle als Saalwächterin im örtlichen Heimatmuseum annimmt. Ein „Projekt der Gelassenheit“ will sie durchführen, sich üben in absoluter Gleichmut des Geistes – ein innerer Zustand, den Mara körperlich perfekt gespiegelt sieht in etwas, das sie den „Lendenmoment“ nennt; jenen Moment, in dem ihre Lendenwirbel die Lehne des Stuhls berühren, auf den die Museumswächter sich zu setzen pflegen.

Doch bereits nach kurzer Zeit stellt der entspannende Lendenmoment sich immer seltener ein. Auch die Abgeschiedenheit der Provinz schützt nämlich nicht vor allerlei zivilisatorischer Hybris. Ausgerechnet in jenem Museumssaal, in dem Mara sitzt, stehen zwei ausgestopfte Pferde – Exemplare der national bedeutsamen, weil in Argentinien gezüchteten Criollo-Rasse. Welche historische Bedeutung genau diese beiden ausgestellten Pferde haben, bleibt erzählerisch im Unbestimmten, so wie prinzipiell rein gar nichts in diesem sanft surrealistischen Roman explizit verdeutlicht wird. Es ist ein Prosa-Kaleidoskop der zivilisatorischen Seitenwege, das María Sonia Christoff entwirft, zusammengesetzt aus der Erzählung über Mara und längeren Einschüben mit Texten aus Maras „Notizbuch“, in dem sie Reflexionen über ihre intellektuellen Lektüren notiert.

Wohin das alles führen soll oder kann, bleibt lange im Ungefähren, auch wenn einem vielleicht auffällt, dass die Einträge in Maras Notizbuch zunehmend in eine bestimmte inhaltliche Richtung weisen, die Indiz für eine intendierte Handlung sind. Maras Unbehagen an den Zumutungen der Zivilisation wird jedenfalls geteilt von dem jungen Mann, der ihr immer die Kiste mit dem Biogemüse vorbeibringt und dessen Dasein ebenso wie das der ehemaligen Karrierefrau von einer diffusen anarchistischen Sehnsucht grundiert wird. Als das Museum einen mit nationalistischem Pathos durchtränkten Festakt vorbereitet, zu dessen Ehren die beiden ausgestopften Criollo-Pferde neu präpariert werden sollen, sieht Mara sich genötigt zu handeln. Und auch wenn ihr einziges Ziel dabei ist, den geliebten „Lendenmoment“ wiederherzustellen, gelingt ihr ganz nebenbei die Befreiung einer heimlichen Leidensgenossin.

Der Autorin María Sonia Chris­toff wiederum gelingt mit Maras Geschichte ein hintergründiger kleiner Roman, in dem Narration und Reflexion zu einer täuschend glatten Textoberfläche verwoben sind, ohne dass darin irgendetwas auserklärt würde. Es ist ein Text, der hinter seinem gepflegten Äußeren ein weites, struppiges Feld voller möglicher, noch ungedachter Gedanken eröffnet, durch die jeder Leser und jede Leserin ihren eigenen Weg suchen können. Auch Maras Geschichte ist letztlich die einer Lesenden, deren Geist sich mithilfe ihrer Lektüren gleichsam einen Pfad durch den Dschungel der Sinnlosigkeit bahnt. Damit gewinnt sie sogar eine Möglichkeit zu handeln. Total gewaltfrei, natürlich. Katharina Granzin

María Sonia Christoff: „Lasst mich da raus“. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Berenberg Verlag, Berlin 2015, 157 S., 20 Euro