Bach-Festspiele in Township Area 7

CTMSchlingensiefs unvollendeter Film „The African Twin Towers“ ersteht als Collage von Hanno Leichtmann und Carolin Brandl auf

Hanno Leichtmann am Laptop, dahinter ein Bild aus Schlingensiefs Handkamera Foto: Roland Owsnitzki

von Sophie Jung

Kein Kreischen, Schreien und Brüllen gab es in Christoph Schlingensiefs späteren Filmprojekten mehr. Die provokative Dralligkeit des „Deutschen Kettensägenmassakers“ (1990) oder von „Terror 2000 – Intensivstation Deutschland“ (1992) verwandelte sich zunehmend in eine orchestrale Massigkeit.

Am Donnerstagabend aber versanken die Stimmen aus seinem vieldeutigen und nie fertiggestellten Filmprojekt „The African Twin Towers“ gänzlich in einem massiven Sound. 2010 starb der Künstler, Theater-, Opern- und Filmemacher. Hanno Leichtmann, der 2010 am Soundtrack zu dem 70-minütigen Dokumentarfilm über das Projekt mitarbeitete, ließ „The African Twin Towers“ gemeinsam mit der Filmemacherin Carolin Brandl im Hebbel am Ufer als Musikfilm nun neu aufleben. Live schnitt er auf der Bühne Fragmente des Soundtracks zusammen und verwob sie mittels Samplern und Effekten. Von schaurigen Orgelsounds bis zu dunklen Technobässen changierte die 45-minütige Darbietung, die im Rahmen des Clubs Transmediale präsentiert wurde.

„The African Twin Towers“ war 2005 ursprünglich als abendfüllendes Epos mit außergewöhnlicher Besetzung geplant. Patti Smith, Robert Stadlober, Klaus Beyer und die Fassbinder-Schauspielerin Irm Hermann kamen zu den Dreharbeiten in die ehemalige deutsche Kolonie Südwestafrika in den Township Area 7 der Hafenstadt Lüderitz.

Dort müssen sie allesamt recht bald an ihre Grenzen gestoßen sein. Schlingensiefs Plot war wahnwitzig: Nachfahren Johann Sebastian Bachs wollen auf den Resten des einstigen Kolonialgebiets Bach-Festspiele veranstalten, mit deutscher Kultur in die Wellblechhütten von Area 7 crashen und treffen dabei auf jede Menge Hindernisse, die bald den Verfall der Familienmitglieder herbeiführen. Von hier an verschränkt der Film deutschen Größenwahn, Richard Wagner, afrikanische Hungerkrisen, Kolo­nial­geschichte, Schamanismus, nordische Mythologie, Tote, die Geister der Vergangenheit und der Gegenwart zu einem sur­rea­len Taumel, in dem der Regisseur selbst als Teil des Filmes hervortritt.

Den Umstand, dass dieses Filmprojekt nicht zu bändigen war, verarbeitete Schlingensief nicht nur in seiner siebzigminütigen Dokumentation „The African Twin Towers“, sondern auch in einer gleichnamigen Installation auf der Berlinale 2008. Nicht in einer kontinuierlichen Abfolge von Bildern, sondern „alles gleichzeitig“, wie er selber gesagt haben soll, synchronisierte er auf einer großen Facettenaugenwand mit 18 Monitoren die Aufnahmen und Eindrücke der 27 Drehtage.

Die Fiebrigkeit und Rastlosigkeit, die Schlingensief in den verschiedenen Varianten von „The African Twin Towers“ ausdrückte, wandelte sich aber an diesem Abend im Hebbel am Ufer in eine ruhige, nahezu meditative Bild- und Klangabfolge. Es gibt keine flirrenden Bildschirme, sondern eine große Leinwand hängt über der Bühne am HAU1. Während Leichtmann auf der Bühne unter der Projektion einen neuen Sound zusammenstellt, komponiert Filmemacherin und Videokünstlerin Carolin Brandl, ebenfalls live, am Rand der Bühne die Bilder neu zusammen.

Beim CTM-Festival werden noch bis Sonntag an verschiedenen Veranstaltungsorten laut dem diesjährigen Motto „Neue Geografien“ durchmessen. Das Abschlusskonzert ist im Watergate und beginnt am Sonntag um 23.59 Uhr, dabei wird auch vom CTM-Gast-Ko-Kurator Rabih Beaini ein speziell auf das Festivalmotto zugeschnittenes DJ-Set zu hören sein. Festprogramm: www.ctm-festival.de

Mehr CTM über das engere Festival hinaus gibt es noch im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien am Mariannenplatz, und zwar bis zum 20. März mit der CTM-Ausstellung „Seismographic Sounds. Visionen einer neuen Welt“, die Einblicke in aktuelle popmusikalische und experimentelle Nischenmusikszenen geben will.

Als „(re)played“ betiteln Brandl und Leichtmann den Musikfilm. Im Pingpongverfahren verweben die beiden Soundfragmente und Bildabfolge. Die Videokünstlerin benutzt dabei ausschließlich Minox-Filmmaterial, das von Schlingensief persönlich mit einer kleinen Handkamera gedreht wurde. Lücken und Auslassungen, extreme Nahaufnahmen und die rauschige Ästhetik der Kamera fügte Brandl an diesem Abend zu einer neuen Sicht auf das wahnwitzige Spielfilmprojekt zusammen.

Da wandert Patti Smith einer Priesterin gleich über die große Leinwand und wickelt langsam einen toten Fuchs in ein Leichentuch. Der rosafarbene Federschmuck von Irm Hermann tritt grell aus einer Gruppe namibischer Tanzender hervor, die vor der gleißenden Kulisse der Wellblechsiedlung ein schamanisches Ritual zelebrieren. Schneidet Brandl hinter die Szene mit der heidnischen Anbetung einer verwesten Robbe über in die Standaufnahme einer kolonialistischen Villa, lässt Leichtmann den indischen Sitarsound noch in der Folgeszene nachklingen.

Bild und Klang überblenden die beiden Künstler in einem ständigen Wechsel. So entsteht aus dem von Christoph ­Schlingensief hinterlassenen Material ein hypnotischer Fluss.