: Basis und Blockaden
PORTRäT Sie wird gehasst. Sie wird verehrt. Die Linkenpolitikerin und notorische Demo-Anmelderin Juliane Nagel ist das Gesicht des Widerstands gegen rechts in Leipzig
aus leipzig Hanna Voß
Zur Geburtstagsparty von Legida am 11. Januar ist Juliane Nagel gekommen, obwohl sie gar nicht eingeladen war. 2.000 selbsternannte europäische Patrioten feiern in Leipzig ihren Jahrestag. Sie rufen „Wir sind das Volk“, „Lügenpresse“, „Merkel muss weg“. Man sieht Schilder mit den Worten „Keine Gewalt“, aber man sieht auch Männer (deutscher Herkunft), die anderen Handys aus der Hand und einer Reporterin des MDR ins Gesicht schlagen. Trotzdem steht Juliane Nagel da, abseits von den Demonstranten, und dreht sich bedacht eine Zigarette. Mit Gizeh-Filtern und dem bei Linken beliebten Pueblo-Tabak. Sie muss sich im Hintergrund halten, denn in Leipzig ist Nagel bekannt wie kaum eine andere Politikerin. Gegner etikettieren sie als Anführerin der Antifa und Autonomen. Unwählbar; eine von den gewaltbereiten Chaoten, die sich Linksradikale in ganz Deutschland zum Vorbild nehmen. Für andere dagegen symbolisiert sie aufrichtigen Widerstand. Eine Antithese zur Politikerelite. Nagel gewann bei der Landtagswahl 2014 im erzkonservativen Sachsen ein Direktmandat für die Linke in Leipzig-Connewitz. Mit 1.051 Stimmen vor ihrem Widersacher von der CDU, der sie kurzum „Chaos-Jule“ taufte.
Die Gegendemo am Legida-Jahrestag hat sie als Versammlungsleiterin betreut, aber sie guckt auch gern, was sich auf der anderen Seite abspielt. Mit ihrem Abgeordnetenausweis geht das. Angst vor den Legida-Läufern hat sie nicht. „Warum denn, der Polizeipräsident steht doch direkt neben mir“, sagt sie, deutet auf den kleinen Mann namens Merbitz ein paar Meter weiter und verzieht ihre breiten Lippen zu einem Lächeln. Es dauert nur Minuten, bis sich eine Gruppe von rund 30 Männern auf sie zubewegt. Bedrohlich, breitbeinig, mit Megafon: „Frau Nagel, verpissen Sie sich. Wir wollen keine Antideutschen, die Deutschland verraten, hauen Sie ab, Sie unerträgliche Person“, dröhnt es ihr entgegen. Nagel muss zurückweichen. „Wenn Sie auch so was tragen“, schreit ihr ein Polizist entgegen und stupst an den Button, den sie an den Riemen ihrer Tasche geheftet hat. „Good night white pride“ steht darauf, Spruch und Symbol der Antifa.
„So schlimm war es noch nie“, sagt Nagel, mit reichlich Abstand und Blick auf die abgeschirmten Demonstranten. Etwa zur gleichen Zeit stürmen 250 Nazis den Stadtteil Connewitz, schmeißen Scheiben von Geschäften ein, wüten in einem Döner-Imbiss, zerstören in blindem Hass. Jule Nagel erfährt Teile davon über Twitter, telefoniert, wirkt bestürzt. Connewitz, das ist ihr Stadtteil. Das ist da, wo sie Politik macht. Da, wo sie aufgewachsen ist. 211 Gewalttäter aus Hooligankreisen nimmt die Polizei an diesem Abend fest, das Viertel steht unter Schock.
Ein paar Tage zuvor: In Connewitz ist noch alles ruhig. Der Weg zu Nagels Büro führt an einem Geschäft mit Wasserpfeifen vorbei, an Laternen mit „refugees welcome“-Stickern, an der Fensterfront mit Einladungen zu Diskussionen über das bedingungslose Grundeinkommen. Menschen mit Tunneln in den Ohren und Ringen in der Nasenscheidewand huschen aus den Hauseingängen, schwarz gekleidet, ein Turnbeutel auf dem Rücken oder eine Bauchtasche vor dem Nabel: Connewitz, das ist seit jeher der Stadtteil der Linken, Alternativen, Autonomen. Mittendrin behauptet sich das Linxxnet, ein offenes Abgeordnetenbüro als Umschlagplatz für soziale und politische Projekte, den Nagel im Jahr 2000 mitgegründet hat.
Sie selbst ist in zahlreichen Initiativen aktiv, sitzt im Stadtrat, im sächsischen Landtag, meldet eine Demo nach der anderen an, geht auch noch hin, debattiert, schreibt und twittert. Bekommt Anrufe und E-Mails, in denen Menschen um Rat fragen, wird auf der Straße und auf Partys angesprochen. Weil jemand keinen Kitaplatz bekommen hat. Seine Miete nicht mehr zahlen kann. Oder andere Sorgen hat: Ein Jugendlicher hängt an diesem Morgen vornübergebeugt auf einem Sofa im Linxxnet, andere möchten zur Sozialberatung. Platz ist für alle.
Jule, wie sie von fast allen genannt wird, sitzt mit krummem Rücken an ihrem Schreibtisch mit den kaum genutzten Sortierablagen aus grünem und rotem Plastik. Sie lächelt und nickt viel, fragt, ob sie Tee kochen soll. Oder Kaffee? Oder doch lieber Tee? Ihr Auftreten könnte souveräner sein, aber gerade das Unsouveräne macht ihren Charme aus – und sie sieht jünger aus als 37. Wenn es an der Tür klopft, ist sie stets im Begriff, aufzustehen, beide Hände am Ende ihrer langen Arme liegen wie zum Absprung bereit auf ihrem Schoß. Jemand bringt einen Drucker vorbei, fragt, wo er ihn abstellen könne. Nagel würde am liebsten sofort aufstehen und das selbst machen. Aber sie zwingt sich, sitzen zu bleiben, und sagt nur „nebenan“. Jule, groß und schlaksig, wirkt zurückhaltend, fast schüchtern. Aufwiegelnd, gewalttätig gar, wie es über „Chaos-Jule“ in manchen Kreisen heißt? Nur sehr schwer vorstellbar.
„Es gibt eine sehr verengte Wahrnehmung von mir“, sagt sie, versucht die buschigen braunen Haare plattzudrücken. „Mich hat man an eine Spitze gestellt, die es überhaupt nicht gibt.“
Heiko Hilker kennt Nagel seit 1998. Er saß lange für die Linke im Landtag und sagt: „Die Leute denken, sie ist eine Anführerin, aber das stimmt nicht. Jule hat ihre Methode – Basisarbeit, offenes Büro, noch mehr Basisarbeit – und die ist sehr erfolgreich.“ Sie will die Heterogenität linker Gruppen, auch der Antifa, nutzen, ohne sie zu beherrschen. Kritik daran gibt es auch aus der eigenen Partei – die Wahl zur Vizevorsitzenden vor zwei Jahren verlor sie deutlich – aber Nagel macht weiter. Mittels zivilen Ungehorsams, mit Sitzblockaden etwa. Weil sie während einer Pressekonferenz dazu aufrief, den nächsten Legida-Marsch auf diese Weise zu verhindern, ermittelte die Staatsanwaltschaft wegen des Aufrufs zu einer Straftat. Heute steht fest: Gegen Nagel wird Anklage erhoben.
Nagel ist in Leipzig geboren. Nach dem Abitur fing die Buchhändlertochter eine Lehre zur Rechtsanwaltsgehilfin an, die sie abbrach. 1999 begann sie ihr Studium im Verlagswesen, unterbrach es, wechselte das Fach, verbrachte mehr Zeit auf Demos als in Hörsälen. „Bisher habe ich es einfach nicht auf die Reihe bekommen, einen Abschluss zu machen“. Mit gerade einmal 20 Jahren wurde sie – damals noch für die PDS – in den Leipziger Stadtrat gewählt. Es folgte eine „Trouble-Zeit“, wie Nagel sie nennt. In einer Silvesternacht in Connewitz gerät sie in ein Gerangel mit Polizisten und wird später angetrunken am Steuer erwischt. 2009 dann die Rückkehr in den Leipziger Stadtrat, seit 2014 ist sie Landtagsabgeordnete. Doch die Arbeit in Dresden sei oft ermüdend, erzählt sie: „Jeder Vorschlag der Opposition wird von der Regierung abgeschmettert.“ Das enttäuscht sie. Weil ein Parlament für sie Ort des politischen Diskurses sein sollte, nicht des parteipolitischen Stillstands.
Die Basis – sie ist Jules große Liebe. „Wahrscheinlich würde ich tief im Herzen jede Sitzung im Landtag für eine Arbeit mit der Basis eintauschen“, sagt sie mit hochgezogenen Schultern und zwischen die Knie gepressten Händen. Wenn sie solche Sätze sagt, ist man überzeugt, dass Astrid Lindgren ihre Freude an einer solchen Protagonistin gehabt hätte. Eine, die nie ganz erwachsen und noch weniger eine von den Elitären werden will.
Jule Nagel ist eine Getriebene. Getrieben davon, immer noch mehr machen, bewegen, verändern zu wollen. Für alle bezahlbare Mieten in Leipzig etwa. Oder ein Winterabschiebestopp. Getrieben auch von der Angst, sich zu weit von ihren Wurzeln zu entfernen, „oberflächlicher zu werden“, wie sie sagt. Trotz des Frusts im Landtag fährt sie weiter nach Dresden und würde auch, „wenn ich nicht ausgebrannt bin“, noch mal kandidieren. Weil sie weiß, dass sie den Landtag braucht, um in größeren Sphären verändern zu können. Noch am späten Abend des Legida-Jahrestags bedankt sie sich über Twitter für die große Solidarität in Connewitz, einen Tag später meldet sie in ihrem Kiez eine Solidemo an. Eine Pause gibt es nicht.
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