American Pie
: Kümmerer für die Kopfsache

Football Die NFL veröffentlicht Statistiken zu Gehirn­erschütterungen bei Spielern. Richtig ­darüber reden mag man ­trotzdem nicht

271 hieß die Zahl des vergangenen Freitags für die NFL. 271 Gehirnerschütterungen wurden insgesamt während der abgelaufenen Spielzeit diagnostiziert – ein Anstieg von 32 Prozent zum Vorjahr. Die Zahl der Gehirnerschütterungen in Spielen schnellte gar um 58 Prozent auf 182. So nachzulesen im an ebenjenem Freitag veröffentlichten Bericht der Liga.

Eigentlich ist aktuell der denkbar ungünstigste Zeitpunkt für Negativschlagzeilen – schließlich findet am kommenden Sonntag die 50. Ausgabe des Superbowls statt. Wenn die Carolina Panthers im Endspiel in San Francisco auf die Denver Broncos treffen, sollen für die populärste Football-Liga der Welt eigentlich keine Misstöne dazwischenkommen.

Und so gaben sich die Verantwortlichen auch alle Mühe, schönzureden, was nicht schöngeredet werden kann: „Wir hatten eine nie dagewesene Zahl von Spielern, die sich bei uns mit Symptomen von Gehirnerschütterungen gemeldet haben“, erklärte Jeff Miller, Vizepräsident der Liga im Bereich Gesundheit und Sicherheit. „Auch Trainer und unabhängige Neurologen an den Seitenlinien sind viel aktiver dabei, auf diese Art der Verletzung hin zu untersuchen.“

Die Veröffentlichung wurde zur mittelgroßen Lobhudelei auf sich selbst. „Ich sehe, wie Trainer ihre Spieler sofort aus der Partie nehmen, wenn sie Symptome zeigen. Ich sehe Spieler, die sich selbst oder auch sich gegenseitig melden“, wurde Richard Ellenbogen zitiert, seinerseits zuständig im Komitee für Kopf-, Nacken- und Wirbelsäulenverletzungen.

Gehirnerschütterungen sind seit Jahren das dringendste – und unangenehmste – Thema für Liga-Chef Roger Goodell. Lange musste sich der Profi-Football allzu lasche Vorschriften vorhalten lassen. Erst 2013 stimmte die NFL nach einem langen Gerichtsprozess der Zahlung von insgesamt 765 Millionen US-Dollar zu – ein Verbund von 4.500 ehemaligen Spielern hatte geklagt. Die Liga hätte die Gefahren von Traumata und ­anderen Schädigungen verschwiegen.

20 Millionen US-Dollar investiert man nun in neue Technologien, die bei der Feststellung wie bei der Verhinderung von Hirnschäden helfen sollen. In den vergangenen fünf Jahren gab es 39 Regeländerungen, im medizinischen Bereich bis hin zu Spezialisten am Spielfeldrand. Hinter vorgehaltener Hand wird allerdings gemunkelt, einzig das PR-Desaster hätte die Macher des von zahlreichen Großsponsoren verwöhnten Sportbetriebs zu Kümmerern werden lassen.

So konnte Ende November Case Keenum weiterspielen, obwohl der Quarterback der St. Louis Rams im Spiel gegen die Baltimore Ravens nach einem Aufprall auf den Rasen sichtlich benommen wirkte – Keenum selbst gab den Teamärzten das O.-k.-Zeichen. Dass danach die in solchen Fällen eigentlich vorgesehene Geldstrafe für die Rams ausblieb, war eine mittelschwere Katastrophe für die NFL. „Komplettes Scheitern auf allen Ebenen“ kommentierte Spielergewerkschaftschef Eric Winston.

Dass es auch sensibilisierte Spieler gibt, bewies Chris Borland im vergangenen Sommer. Nach nur einer Saison beendete der Linebacker der San Francisco 49ers mit nur 24 Jahren seine Karriere – aus Angst vor Folgeschäden der enormen Kräfte, die auf Kopf und Gehirn einwirken. „Nach meinen Recherchen und Erfahrungen bin ich zur Erkenntnis gekommen: Das Risiko ist es einfach nicht wert“, erklärte der 1,80 Meter große 112-Kilogramm-Mann, der als großes Defensiv-Talent galt. „Ich will nicht erst Symptome spüren. Dann ist es schon zu spät.“

Die Spielergewerkschaft empfiehlt ihren Mitgliedern aktuell den Kinofilm „Erschütternde Wahrheit“, ein Doku-Drama über den Neuro-Pathologen Bennet Omalu, der 2002 erstmals durch Autopsien die Todesfälle früherer NFL-Akteure als Folge von Hirnerkrankungen durch Traumata und Gehirnerschütterungen erkannte – und sich tatsächlich gegen erhebliche Widerstände durchsetzen musste, um seine Befunde zu veröffentlichen.

„Wir beschäftigen uns nicht mit irgendwelchen Filmen“, zeigt sich Liga-Chef Goodell wenig begeistert. Da ist es kein Wunder, dass sich Hauptdar­steller Will Smith sicher ist: „Die NFL wird mich wohl eher nicht zum Superbowl einladen.“

David Digili