Berliner Szenen
: Vom Glauben abfallen

Ketzerische Musik

In Zwölftonreihen fliegen die Töne hin und her

Am Freitag spielte das Rundfunksinfonieorchester „Le Martyre de Saint Sébastien“ von Claude Debussy. Damals, bei seiner Uraufführung 1911, wurde Katholiken geraten, dem Stück möglichst fernzubleiben, weil es „die Lebensgeschichte eines unserer glorreichsten Märtyrer unter den unwürdigsten Umständen entstelle“, wie es aus dem Bischofsamt hieß. Umso lieber hätte ich es mir angehört, alte orthodoxe Atheistin, die ich bin. Aber ach, die BVG schießt mir ins Knie und lässt mich zwei Minuten zu spät an den Toren des Konzerthauses am Gendarmenmarkt kratzen. Debussys wunderbare ketzerische Musik dringt nur ganz leise durch die Doppeltür, vor der ich wartend herumtigere, innerlich mich, die U-Bahn und die Einlassregeln verfluchend, und bereit, direkt noch einmal vom Glauben abzufallen. Nachdem Sebastians Seele im fünften Akt von den himmlischen Heerscharen willkommen geheißen wurde, darf ich endlich auf meinen Platz schlüpfen. Zwei Stücke von Henri Dutilleux werden nun gegeben, und vor allem das zweite namens „Métaboles“ von 1964 ist herrlich und klingt zuweilen, als ob der Mann die Bewegungen von Vogelschwärmen vertont hätte, die sich ja bei ihren irren Formationsflügen zwischen den Straßenschluchten immer wie ein einziger Star oder Spatz oder Fink bewegen – woher können die das? Wieso knallen die nie gegeneinander oder gegen Hauswände? In Zwölftonreihen fliegen die Töne des Orchesters ebenfalls hin und her und bilden zauberhafte Formationen, Marek Janowski dirigiert das freitonale Gewitter, und nachdem als Letztes auch noch Debussys „La Mer“ gegeben wird, bin ich wieder komplett versöhnt. In der Pause sehe ich, wie ein Abonnement-Inhaber kopfschüttelnd das Feld räumt. Und kurz überlege ich, ihn anzuranzen: „Wohl Katholik oder was?“ Aber dann übe ich mich in gottloser Toleranz. Jenni Zylka