Nature WritingHelen Macdonald hat die Geschichte ihrer sensiblen Reise in die Unterwelt geschrieben: Die Flucht mit dem Habicht
Die schönsten Bücher über die Erfahrung in der Natur schreiben englischsprachige Autoren. „Nature Writing“ heißt das Genre, und neben Amerikanern haben die Briten das Schreiben über die Natur zur Meisterschaft gebracht. Sie lassen sich darauf ein, was unsere Verwandten da draußen machen und was das ungezähmte Leben in der Wildnis mit den Zivilisierten zu tun hat.
Die Literatur der Wildniserfahrungen bereichert hat die Engländerin Helen Macdonald, die mit ihrem mehrfach ausgezeichneten Bestseller „H wie Habicht“ gleich zwei Männerdomänen durchbricht: Nature Writing und Falknerei. Denn Macdonald findet ihren Weg in die Wildnis mit einem Habicht auf dem Falknerhandschuh. Mabel nennt sie den Habicht, und Macdonald tritt mit ihr „eine Reise in die Unterwelt“ an, nach deren Rückkehr nichts mehr ist, wie es war.
Macdonald identifiziert sich im Lauf der Reise mit dem Habicht, sieht wie Mabel die Bewegung des Flügelschlags einer Taube als Beute, die Hecke zwischen den Feldern als Deckung. „Irgendetwas tief in mir drin versuchte, sich neu zu erschaffen, und das Vorbild dafür saß vor mir, auf meiner Faust. Der Habicht war all das, was ich sein wollte: ein Einzelgänger, selbstbeherrscht, frei von Trauer und taub gegenüber den Verletzungen des Lebens.“
Ihr Vater war 2007 plötzlich gestorben und sein Tod stürzte Helen Macdonald in eine depressive Trauer. „Wochenlang fühlte ich mich wie dumpf glühendes Metall“, schreibt Macdonald, die ihren Zustand als „irr bei Nordnordwest“ bezeichnet. In der seelischen Not erinnert sich Macdonald an ihren größten Kindheitstraum – einen Habicht abzutragen, wie Falkner das Abrichten eines Greifvogels nennen. Schon als Kind war Macdonald besessen von Greifvögeln, hatte Fotos von Falken, Habichten, Bussarden an den Wänden ihres Zimmers. In ihrer Faszination für Vögel versuchte sie mit auf dem Rücken verschränkten Armen zu schlafen. Als hätte sie Flügel.
Mabel verleiht Helen Macdonald diese Flügel und inspiriert sie schließlich dazu, dieses zärtlich fesselnde und kluge Buch zu schreiben. „Abgerichtete Greifvögel haben die merkwürdige Fähigkeit, die Geschichte heraufzubeschwören, weil sie auf gewisse Weise unsterblich sind. Einzelne Exemplare der Spezies sterben, die Spezies selbst bleibt unverändert“, schreibt Macdonald, die in der Beobachtung des abgerichteten Tieres die Zeitlosigkeit der Natur erfährt. Denn um von der Wildnis zu lernen, nutzt sie mit dem Abtragen eines Habichts eine der ältesten Kulturtechniken der Menschheit.
Macdonald ist nicht nur eine außergewöhnlich scharfsinnige und elegante Erzählerin. Sie ist auch Philosophin und Historikerin und verwebt in ihrer Geschichte mit Mabel die Geschichte des englischen Autors T. H. White, der den Klassiker „The Goshawk“ über die Falknerei mit einem Habicht geschrieben hat. White ist vor allem bekannt, weil er die Sage von Artus und dessen Suche nach dem Heiligen Gral neu erzählt hat. Helen Macdonald verbindet in „H wie Habicht“ beides – eine berührende Geschichte über einen Habicht mit dem Mythos der Heldenreise.
Während der täglichen Jagd mit Mabel steigt Macdonald hinab in das Reich der Toten, denn der Habicht zwingt sie dazu, tote Kaninchen, Tauben, Fasane aufzuklauben, fast möchte man sagen „zu atzen“, wie das Fressen der abgerichteten Greifvögel heißt.
Wie bei jeder mythischen Reise in die Welt aus Unterholz und Unbewusstem findet auch Macdonald einen Gral und steigt stärker und reicher empor. Sie hat gelernt, mit dem Tod umzugehen, vor dessen Grauen und bleierner Leere sie geflohen war.
Ulrike Fokken
Helen Macdonald: „H wie Habicht“. Aus dem Englischen von Ulrike Kretschmer. Allegria Verlag, Berlin 2015, 416 S., 20 Euro
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