„Man trägt die Musik halt immer mit sich herum“

DER KOMPONIST Max Richters Studio in Berlin-Mitte wirkt nüchtern und aufgeräumt. An der einen Wand steht ein Konzertflügel, auf dem ein paar Notenblätter liegen; an der anderen ist ein Arbeitsplatz mit Computer, Mischpult, elektronischen Instrumenten und einer großen Filmleinwand. Die Fenster blicken in einen Hinterhof, doch des Klangs wegen sind die Vorhänge zugezogen. Ein Gespräch über Brandenburger Inspirationen, Heimat, Vivaldi als Rockstar und Elektrofrickler in Berlin

■ Richter wird 1966 in Hameln geboren und wächst in London auf. Er studiert Komposition und Klavier an der Uni Edinburgh, an der Royal Academy of Music und am Florentiner Tempo Reale, wo der Komponist Luciano Berio sein Lehrer war.

■ 1989 gründet er mit fünf weiteren Pianisten das Ensemble Piano Circus, das zeitgenössische Musik von Komponisten wie Steve Reich aufführte. 1996 bis 1998 arbeitete er mit dem Elektronik-Projekt Future Sound of London zusammen.

■ International bekannt wurde Richter mit dem Soundtrack zum Film „Waltz With Bashir“ (2008). 2012 erschien von ihm in der Reihe „ReComposed“ der Deutschen Grammophon eine Neubearbeitung von Antonio Vivaldis „Vier Jahreszeiten“. Richter ist verheiratet und hat drei Kinder. Vor vier Jahren ist er mit seiner Familie von London nach Berlin gezogen.

INTERVIEW TIM CASPAR BOEHME
UND JOHANNES KULMS
FOTOS WOLFGANG BORRS

taz: Herr Richter, Sie sind vor allem als neoklassischer Komponist bekannt. Wenn Klaus Wowereit käme und Sie um eine Berlin-Hymne bitten würde …

Max Richter: … dann würde ich das sehr wahrscheinlich ablehnen.

Wirklich?

Lustigerweise hat es tatsächlich so eine ähnliche Anfrage gegeben. Ich glaube nicht, dass ich das könnte. Ich kenne die Stadt einfach noch nicht gut genug und habe noch viel zu entdecken.

Sie leben seit vier Jahren in Berlin. Fühlen Sie sich hier zu Hause?

Ich bin in Deutschland geboren. Aber ich bin in der britischen Kultur groß geworden. Und nun bin ich in Berlin. Weil es sich in kreativer Hinsicht sehr lebendig anfühlt. Und weil es hier viele Möglichkeiten zu geben scheint.

Was meinen Sie damit?

Berlin ist nicht fertig, anders als London. London ist abgeschlossen. Aber hier ist es alles offener. Die Stadt erfindet sich die ganze Zeit. Und was ich noch sehr an Berlin mag: Wenn man Künstler ist, dann fühlt man sich hier nicht fremd. In Großbritannien ist das anders, da ist man sehr antikünstlermäßig drauf.

Woran haben Sie das festgemacht?

Wenn Sie in England auf einer Party jemandem sagen, dass Sie Komponist sind, dann kommt sofort die Frage: „Ah, und was machen Sie sonst?“

Sie verdienen mit Komponieren Ihr Geld.

Ich bin ziemlich glücklich darüber, dass ich das tun kann, wonach mir ist. Ich denke, es ist schon ein Privileg, wenn man Musik machen kann – und davon leben kann. Das ist schon fast ein Wunder, denn normalerweise schließen sich diese beiden Dinge aus. Das zweite Wunder ist, dass es Leute gibt, die sich meine Musik anhören. Mein Ziel ist es, dass ich genauso weitermachen kann. Denn schon das, was ich erreicht habe, erscheint mir wie ein Gewinn im Lotto.

Zuletzt haben sie eine Neufassung von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ veröffentlicht. Wie kamen Sie darauf, das Stück neu zu komponieren?

Ich hatte die Idee schon lange. Die „Vier Jahreszeiten“ sind ein Puzzle: einerseits ein Meisterwerk mit wunderbaren, für die damalige Zeit innovativen Ideen. Andererseits sind wir überall von schrecklichen Versionen dieses Werks umgeben, zum Beispiel in Einkaufszentren. Man nimmt es gar nicht mehr als Musik wahr.

Das wollten Sie ändern?

Meine Idee war daher, eine neue Version zu machen – und damit ein bisschen auch die Musik zurückzuholen. Es war also eher ein privates Anliegen, das ganze Werk aufzufrischen.

Wie sind Sie vorgegangen?

Am Anfang wollte ich einen Remix machen. Aber ich habe schnell gemerkt, dass ich damit meine Zeit verschwende und nicht wirklich zum Kern des Werks vorstoße – am Computer kommt man eben nicht an die wirklichen Noten dran. Was das Werk für mich aber so wertvoll macht, ist nicht der Sound oder die Klangfarbe – es sind die Noten, die Grammatik, der Text. Und deswegen musste ich das Werk neu schreiben.

Hatten Sie Angst, dass das schiefgehen könnte?

Wenn man komponiert, gibt es immer Leute, die das toll finden, und andere, die es hassen. Ich kann nicht für jeden schreiben, es muss ja erst einmal mir gefallen. Wenn niemand diese Neukomposition hassen würde, dann würde das nur zeigen, dass ich meinen Job nicht gut gemacht habe – dann wäre es eben nur wie das Original von Vivaldi. Ich musste die Landschaft also neu bereisen. Aber das Original bleibt ja auch noch da.

Ihr Werk wurde im Techno-Club Berghain aufgeführt.

Mir hat diese Wahl sehr gefallen, weil bei Konzerten ja immer eine Subenergie mitschwingt. Und das Berghain ist nun mal ein Tempel des Basses, der Klang ist wunderbar. Das einzige Problem war: Eigentlich sollte das Konzert geheim sein. Aber irgendwie ist es durchgesickert und im Endeffekt versuchten fast 1.000 Leute reinzukommen. Das tat mir leid. Aber wir machen bald noch mal ein Konzert in Berlin.

Was hätte Vivaldi dazu gesagt?

Oh, ich glaube, das hätte ihm nichts ausgemacht. Wissen Sie, Vivaldi war ein ziemlich interessanter Mensch: einerseits ein Rockstar, andererseits sehr ernst. Er hat oft ähnlich gearbeitet – mit seiner eigenen Musik, aber auch mit der von anderen. Komponisten haben sich eigentlich schon immer aus den Werken anderer Komponisten bedient und diese umgeschrieben. Ich glaube, dass es für Vivaldi in Ordnung gewesen wäre: Er hätte es gemocht – oder eben nicht.

Wäre Vivaldi ins Berghain gekommen?

Schon möglich. Er war ja religiös. Und das Berghain ist eine Art religiöser Ort.

Gehen Sie oft in Berliner Clubs?

Nein, eher selten. Aber ich gehe natürlich raus und höre Musik.

Gibt es Landschaften oder Regionen, von denen Sie sich besonders inspiriert fühlen?

Meine Lieblingslandschaft ist die schottische. Als ich das erste Mal im Westen Schottlands war, dachte ich, auf dem Mond gelandet zu sein. Da ist absolut nichts! Und dieses Kargheit liebe ich. An der schottischen Westküste hat man das Gefühl, die Erde zu verlassen. Vielleicht ist dieses intensive Gefühl so ähnlich wie in der Wüste. Für mich ist diese Leere erfrischend. Wenn ich über musikalische Landschaften spreche, dann meine ich Musik als Ort. Das hat mit dem Sound zu tun, sozusagen das psychologische Profil des Stückes.

Nun liegt die Einsamkeit Brandenburgs vor Ihrer Tür. Finden Sie die Region inspirierend?

Ich liebe die Seen. Aber als jemand, der lange in Schottland gelebt hat: Alles ist so flach hier!

Sie sind in Hameln geboren, in England aufgewachsen, haben in Schottland und Italien studiert. Als was fühlen Sie sich?

Ich denke, man erfindet sich seine eigene Nationalität. Gerade als Künstler konstruiert man die auch ein bisschen. Für mich ist englische Musik sehr wichtig, weil ich eine englische Erziehung erhalten habe. Aber ich habe eine Art „Hinterland“ an deutscher Literatur, der österreichisch-deutschen Musik. Wenn ich über die Frage nachdenke, wo ich zu Hause bin, dann ist das Edinburgh. Ich bin da nicht geboren. Aber ich habe dort zehn Jahre lang gelebt, meine Kinder sind dort aufgewachsen. Ich bin eine Art Staatenloser.

Das klingt ziemlich dramatisch. Fühlen Sie sich deutsch?

Ich fühle mich deutsch, weil ich Musiker bin. Man kann nicht wirklich Komponist sein, ohne sich mit der deutschen Geschichte und der – musikalischen – Kultur auseinanderzusetzen. Das Musikstudium fing mit Bach an. Und dann ging es einfach so weiter.

Inwieweit ist Musik Ihre Heimat?

Musik ist wie ein konstruiertes Heimatland.

Was meinen Sie damit?

Wenn Sie Musiker sind, dann leben Sie auch in der Musik. Für manche ist es wie eine Religion. Man trägt die Musik halt immer mit sich herum.

Wieso wirkt Ihre Musik oft sehr melancholisch?

Da bin ich mir gar nicht so sicher. Die Leute sagen mir das immer. Neulich fragte mich auch jemand, warum ich nur Moll-Akkorde benutze. Aber das stimmt einfach nicht. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass wir im Alltag so viel mit Popmusik konfrontiert sind. Popmusik ist fast schon hysterisch unmelancholisch, meistens immer nur fröhlich. Vielleicht erscheint meine Musik im Vergleich dazu düster.

Und wie empfinden Sie sie selbst?

Musik ist für mich wie ein Tagebuch – es zeigt, wie ich mich fühle. Und wir leben nun mal in komplizierten Zeiten. Politisch ist es heikel, gesellschaftlich seltsam. Es weht ein bisschen der Wind des untergehenden Imperiums. Ein Musikstück zu komponieren ist zudem nicht einfach. Man steckt viel Arbeit hinein. Ich möchte, dass es dann auch einen ernsthaften Anspruch hat. Das ist keine Absicht, es passiert einfach, wenn man sich mit dem Material auseinandersetzt. Es ist gewissermaßen jenseits meiner Kontrolle.

Sie sagten einmal, dass Musik für Sie eine Landschaft ist, in die der Hörer hineingeht. Zugleich soll sie auch Geschichten erzählen. Passt das zusammen?

Ich denke, dass es da eine Art Kontinuum zwischen den beiden Polen gibt. Stücke haben unterschiedliche Ursprünge und Absichten. Wenn ich ein Stück höre, dann möchte ich gern in einen Dialog damit treten. In meiner Arbeit versuche ich Räume zu schaffen, die Hörer dann selber füllen können. Darüber hinaus ist Musik für mich auch Geschichtenerzählen. Entweder ganz explizit wie bei Vivaldi, der sagt, dies ist das Stück über den Betrunkenen oder den Sommer. Oder es ist die Struktur des Stücks, die eine eigene narrative Qualität hat, zum Beispiel durch Tonartwechsel und unterschiedliche Tempi. All dies hat den Zweck, den Hörer woandershin mitzunehmen. Das knüpft für mich an die Tradition des Geschichtenerzählens an.

„Ich fühle mich deutsch, weil ich Musiker bin“

Gab es in Ihrem Leben einen Moment, in dem Sie entschieden haben, Musiker zu werden?

Ich habe immer komponiert. Wenn ich an meine allerersten Erinnerungen zurückdenke, hatte ich da schon Musik im Kopf.

Mit Verlaub: Das klingt ein wenig angeberisch …

Ich wusste damals nur noch nicht, dass man das Komponieren nennt. Und mir war auch nicht klar, dass nicht jeder ständig von Musik in seinem Gehirn umgeben ist. Irgendwann merkte ich, dass ich mit Musik auch wunderbar meine Eltern ärgern kann. Das war wie mit dem Punkrock – Musik als Widerstand. Ich glaube also, dass ich diese Entscheidung schon ziemlich früh für mich getroffen habe.

Apropos Widerstand: Sie haben in einem Interview gesagt, dass Sie und Ihre Generation Ihrer Jugend beraubt wurden.

Das hat damit zu tun, dass Margaret Thatcher an die Macht kam, als ich in England lebte. Dazu muss man sagen, dass Thatcher nichts mit Kultur anfangen konnte. Sie hat als Premierministerin den Sozialstaat, aber auch das soziale Netz und mit ihm die Kultur systematisch zerschlagen. Die Thatcher-Reagan-Achse bedeutete eine ziemlich üble rechtsgerichtete Unterdrückung. Thatcher hat die Gewerkschaften bekämpft, die Lehrer, das Gesundheitssystem und die Kulturförderung. Das alles waren für sie schlimme Dinge.

Wie haben Sie reagiert?

Wehren konnten wir uns nur mit Punkrock. Das war für uns Widerstandsmusik. Musiker oder Künstler zu sein bedeutete damals Widerstand. Natürlich sind wir nicht auf die Barrikaden geklettert, und auf uns wurde, anders als bei den streikenden Minenarbeitern, auch nicht geschossen.

In Ihrer Jugend kamen Sie auch zum ersten Mal in Berührung mit elektronischer Musik.

Was mich bei der Electro-Musik so angezogen hat, war der Sound. Ich war etwa zwölf Jahre alt, als ich das erste Mal „Autobahn“ von Kraftwerk gehört habe. Dieses Ereignis hat mein Leben verändert. Es war so einschneidend, weil mir war bis dahin einfach nicht klar war, dass es so einen Sound gibt. Für mich war die Musik von Kraftwerk und anderen Electro-Gruppen wie eine neue Sprache. Das einzige Problem dabei war: Um solch eine Musik zu machen, brauchte man ein Vermögen. Die Geräte waren so teuer. Sogar der einfachste Synthesizer hat damals so viel gekostet wie ein Auto oder ein Haus. Ich habe dann angefangen, die Geräte selbst zu bauen. Das haben viele so gemacht.

Ist die Tatsache, dass Sie jetzt in Berlin leben, für Sie auch eine musikalische Rückkehr zu Ihren elektronischen Wurzeln?

Natürlich ist die Geschichte und die Kultur der elektronischen Musik in Berlin eine ganz besondere. Allein schon ganz praktisch gedacht ist es fantastisch, hier zu leben. Man hat viele interessante Menschen, an die man sich wenden kann: Du findest immer jemanden, der dir einen uralten Synthesizer reparieren kann oder ein technisches Teil besorgt, das du nirgends sonst auf der Welt so einfach bekommen würdest. Die elektronische Musik ist hier nun mal musikalisch die dominierende Sprache.

Sie haben zu Anfang des Gesprächs London erwähnt. Sehen Sie Parallelen zwischen dem Berlin heute und dem London zu Beginn der 80er Jahre, das Sie kennengelernt haben?

Ich weiß gar nicht, ob sich das vergleichen lässt. Schon in den 80er Jahren konnte man in London eigentlich nur eine Sache machen: Geld. Banker oder Anwalt in der City zu werden war damals das Einzige, das zählte. Und das ist bis heute so. Berlin ist anders.

Glauben Sie, dass Berlin so werden könnte?

Ich denke, dass es Leute gibt, die das wollen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es jemals so sein wird. Natürlich geht die Entwicklung mehr und mehr in diese Richtung. Berlin holt vieles nach und verwandelt sich gerade in eine andere Stadt. Jedes Mal, wenn ich hier unterwegs bin, denke ich: wie fancy! Aber wenn Sie nach London oder Paris fahren, dann merken Sie: Berlin ist garantiert nicht fancy! Berlin glaubt, dass es fancy ist, und Leute demonstrieren gegen die Gentrifizierung. Aber das ist gar nichts im Vergleich zu Paris, New York oder London, wo ein U-Bahn-Ticket umgerechnet 7,50 Euro kostet. Berlin ist immer noch eine Art Dorf, das seinen Weg sucht. Man sollte da schon auf dem Teppich bleiben.