„Fehlende Orientierung lässt sich nicht auf Dauer mit intellektuell verbrämten Quatsch kompen-sieren“

Das bleibt von der Woche Das Abgeordnetenhaus ändert das Schutzgesetz fürs Tempelhofer Feld, um dort ein wenig Platz für Flüchtlinge zu schaffen, ein angeblicher Todesfall am Lageso sorgt für Aufregung und entpuppt sich als Lüge, im Fall der angeblich vergewaltigten Lisa aus Marzahn mischt sich Moskau in die Debatte ein, und beim Ultraschall-Festival hört man auch eine gewisse Orientierungslosigkeit in der Neuen Musik

Eine Frage des Gewissens

TEMPELHOF-GESETZ

Die Berliner stimmten 2014 nicht gegen die repräsentative Demokratie

„Die Berliner wollen nicht länger von oben regiert werden“, schleuderte Antje Kapek, die grüne Fraktionschefin, an diesem Donnerstag dem rot-schwarzen Senat entgegen. Es ging um die Änderung des Gesetzes zum Tempelhofer Feld, wo der Senat auf – seit dem Volksentscheid im Mai 2014 – geschützten Flächen neben dem betonierten Vorfeld Flüchtlinge in Behelfsbehausungen unterbringen will.

Antje Kapek hat da aber mutmaßlich etwas falsch verstanden. Jene 740.000 von insgesamt knapp 2,5 Millionen abstimmungsberechtigten Berlinern, die im Mai 2014 das Volksbegehren unterstützten, stimmten für den Schutz der großen Wiesenfläche, die mal das Rollfeld war, für freies Drachensteigenlassen – und mutmaßlich auch für eine Ablösung des damals noch regierenden Klaus Wowereit. Sie stimmten nicht für die Abschaffung der parlamentarischen und repräsentativen Demokratie. Zumindest stand das nicht auf dem Abstimmungszettel.

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, besagt Artikel 20 des Grundgesetzes. Deshalb hat Deutschland tatsächlich eine Demokratie, eine Volksherrschaft. In Satz 2 dieses Grundgesetzartikels steht aber auch: Diese Staatsgewalt „wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“. Zu diesen Organen der Gesetzgebung gehört das Abgeordnetenhaus.

Man kann ein Parlament durchaus auf Gesetzesinitiativen beschränken, die nur eine Volksversammlung beschließen kann. So war es in der römischen Republik, so ist es vielfach in der Schweiz. Aber so ist es weder in Deutschland allgemein noch in Berlin. Und solange keine Verfassungsänderung das Landesparlament entmachtet, muss sich kein Mitglied des Abgeordnetenhauses vorwerfen lassen, eine Sache anders zu sehen als eine Mehrheit bei einem Volksentscheid. Vor allem, wenn die Umstände völlig andere sind als im Mai 2014.

Der Respekt gegenüber dem Souverän gebiete es, das Schutzgesetz für das Tempelhofer Feld nicht zu verändern, begründete der CDU-Abgeordnete Markus Klaer, warum er gegen seine Fraktion und die Änderung stimmte. Derselbe Souverän aber hat Klaer zu einem Mitglied des Landesparlaments gemacht, wenn auch nur als Nachrücker. Zu einem, der sich seine eigene Meinung machen soll. Das hat Klaer mit seinem Votum ja auch getan – aber das taten auch seine 38 Fraktionskollegen, die anders abstimmten.

Das gibt es auch schriftlich in Artikel 38 des Grundgesetzes: „Die Abgeordneten sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“

Stefan Alberti

Die Tragik des falschen Schreckens

Kein toter am Lageso

Die Aufregung am Mittwoch hat den Hunger aus der Diskussion verdrängt

Wie gut, dass das am Mittwoch eine Falschmeldung war: Es ist kein junger Flüchtling am Lageso gestorben. Behörden und Politik, Medien und Initiativen, alle, die diese Nachricht einen Tag lang in Atem gehalten hat, können ihrem Tagesgeschäft wieder weniger aufgeregt nachgehen. Und doch weisen die Reaktionen auf die Meldung auf ein Problem: Kaum jemand hat es für unwahrscheinlich gehalten, dass ein Mensch am Lageso – oder, noch schlimmer, wegen der Zustände am Lageso – sterben könnte.

Dabei haben sich einige Dinge dort in den letzten Wochen durchaus verbessert. Das Gelände ist seit Mitte Dezember die ganze Nacht zugänglich. Der wirklich lebensgefährliche allmorgendliche Ansturm auf den Eingang, bei dem regelmäßig 300 Menschen auf Bauzäune und Polizeigitter zurannten und immer wieder Verletzte unter verbogenen Metallzäunen herausgezogen werden mussten, ist damit vorbei. Wenn trotzdem viele Flüchtlinge stundenlang bei schlechtem Wetter und mit schlechter Versorgung vor dem Lageso anstehen, ist das ihrer Gesundheit sicher nicht zuträglich. Ob deswegen aber jemand sterben könnte, ist schwer nachzuweisen. Als Vorwurf ist es zu alarmistisch.

Die Aufregung am Mittwoch hat einen anderen Aspekt wieder aus der Diskussion verdrängt. Denn Flüchtlinge sind in Berlin derzeit tatsächlich in Gefahr, und weiterhin wegen der Zustände am Lageso. Einige von ihnen leiden Hunger. Am Montag hatte sich der Leiter einer Gemeinschaftsunterkunft in Köpenick an die Presse gewandt. Menschen in seiner Unterkunft hätten kein Geld mehr, um sich Essen zu kaufen, weil das Lageso es nicht schafft, ihnen regelmäßig und pünktlich ihre Leistungen auszuzahlen. Auch andere Heimleiter meldeten sich.

Und zum ersten Mal hatte man das Gefühl, dass die Senatsverwaltung schnell reagierte. Gleich am Dienstagmittag war der Hunger der Flüchtlinge Thema in der Senatssitzung, am Dienstagabend traf sich der Leiter des Lageso mit den Heimbetreibern und verkündete „Sofortmaßnahmen“. Es schien, als ob sich schnell etwas ändern könnte im Lageso. Vielleicht auch, weil die von der Behörde mit der Flüchtlingsversorgung beauftragten Heimleiter von ihrer Position her mehr Legitimität haben als Ehrenamtliche, die ebenfalls die Versorgung kritisieren. Das Tragische an der Falschmeldung um einen an­geblichen Lageso-­Toten ist, dass sie die Nachricht über die Not in den Heimen so schnell wieder aus den Schlagzeilen verdrängt hat. Uta Schleiermacher

Moskau will wieder Macht in der Stadt

Lawrow und der Fall Lisa

Überraschend, wie viele Russlanddeutsche der russischen Seite mehr glauben

Berlin hat eine neue, alte Schutzmacht. Indem er eine 13-jährige Russlanddeutsche aus Marzahn, von der es hieß, sie sei vergewaltigt worden, zu „unserem Mädchen“ erklärte, hat sich Russlands Außenminister Sergej Lawrow zum Schutzpatron über die Russlanddeutschen in Berlin aufgeschwungen. Moskau habe das Recht, über die Ermittlungen informiert zu werden, da es sich bei dem Mädchen um eine russische Staatsbürgerin handele, legte Lawrow am Donnerstag nach, nachdem ihm die Bundesregierung vorgeworfen hatte, den Fall zu instrumentalisieren.

Man kennt das schon von der türkischen Regierung: Die spielt sich auch gerne als Schutzmacht ihrer Staatsbürger auf, wenn diese sich diskriminiert fühlen. Weil dies in der Tat oft genug geschieht, ist deren Misstrauen in die deutschen Behörden nicht ganz unverständlich – man denke nur an die NSU-Affäre. Ankara weiß das für seine Zwecke zu nutzen. Moskau hat sich daran ein Beispiel genommen. Und offenbar sind auch viele Russlanddeutsche bereit, der russischen Seite mehr Vertrauen zu schenken als den deutschen Behörden.

Das Mädchen war für 30 Stunden verschwunden und hatte danach von einer Entführung und Vergewaltigung durch eine Gruppe südländisch aussehender Männer erzählt. Am Freitag wurde bekannt, dass sie die fragliche Nacht bei einem Bekannten verbracht hatte. Das hätten rekonstruierte Daten aus einem Handy ergeben, erklärte ein Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft. Sie hatte offenbar schulische Probleme und deshalb Angst vor ihren Eltern, es gebe aber keine Hinweise auf eine Sexualstraftat. Ermittelt wird aber weiter gegen zwei Männer, die verdächtigt werden, sexuelle Kontakte zu dem Mädchen gehabt zu haben, bevor es verschwand. Weil das Mädchen minderjährig ist, ist das strafbar.

Dass die deutschen Behörden zunächst nur von einer „angeblichen Vergewaltigung“ sprachen, ohne die Ermittlungen wegen sexuellen Missbrauchs zu erwähnen, hatte die Empörung angestachelt. Mit etwas mehr Fingerspitzengefühl hätte man es der Moskauer Propaganda vielleicht nicht ganz so leicht gemacht. Daniel Bax

das war’s

Trommeln ohne Orientierung

Ultraschall Berlin

Das Thema der ­Vielfalt bildet auch ein Dilemma der Neuen Musik ab

Auf manche Dinge ist in der Neuen Musik immer noch Verlass. Die Forschung an der Schnittstelle von akustischen und elektronischen Klängen etwa bietet Komponisten nach wie vor Gelegenheit, die Grenzen von Instrumenten auszutesten, Technik und Tradition miteinander zu verschalten und den Klängen nachzuspüren, die so entstehen. Der Berliner Komponist Mark Andre tat das mit großem Erfolg in seinem Klavierstück „S3“, das beim Festival Ultraschall Berlin im Radialsystem uraufgeführt wurde. Die Töne wurden zum Teil auf einem Synthesizer erzeugt, für den der Flügel dann als Resonanzkörper diente. Eine spannende Erfahrung.

Andres Klangsprache stand ganz für sich, was gut zum übergeordneten Thema der Vielfalt passte, unter dem das am Sonntag zu Ende gegangene Festival in diesem Jahr stand. Genau genommen bildet diese Klammer aber auch ein Dilemma der Neuen Musik ab: Anders als in der jüngeren Vergangenheit gibt es keine großen Strömungen mehr, denen man sich als Tonsetzer anschließen kann – oder die man als Folie verwendet, um sich von ihnen abzusetzen. Heute bleibt Komponisten eigentlich nur noch ihr Personalstil, den sie entwickeln müssen, um sich durch eine erkennbare – und überzeugende – Handschrift zu bewähren. Oder nicht.

Der Vorteil daran ist: Fantasiebegabte Köpfe können ihre Ideen ohne Beschränkungen durch herrschende ästhetische Dogmen verwirklichen. Weniger fantasiebegabten Musikern bleibt immer noch die Option, sich möglichst gut zu verkaufen.

Für das Publikum entscheidet sich im Zweifel erst im Konzert, was für einen Künstlertypus sie gerade vor sich haben. Wie viele der Zuhörer etwa beim Ultraschall-Konzert im Heimathafen Neukölln mit dem Schlagzeuger Håkon Stene dessen Darbietung von Trond Reinholdtsens „Inferno“ als ästhetischen oder sonstigen Gewinn erlebt haben, ist ungewiss. Gemessen am Publikumsschwund während der Darbietung dürften es nicht übermäßig viele gewesen sein. Das Stück, dessen ausgedehnte automatisierte Trommel-Langeweile mit einem halbgaren Konzeptvideo garniert wurde, steht dabei für eine grundsätzlichere Orientierungslosigkeit in der Neuen Musik insgesamt. Die man auf Dauer nicht mit intellektuell verbrämtem Quatsch kompensieren kann. Als völlig ironiefreie Mahnung sei daher an den „konservativen Revolutionär“ Arnold Schönberg erinnert: Bei aller Theorie in seiner Musik hat dieser stets darauf gepocht, dass sich ein Stück beim Hören erschließen muss. Irgendwie. Tim Caspar Boehme